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       # taz.de -- Urteil gegen Türkei: Letzte Chance Straßburg
       
       > Erdoğan wird das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs wohl ignorieren.
       > Das hätte gravierende Folgen.
       
   IMG Bild: Osman Kavala in einer Archivaufnahme von 2017
       
       Erneut hat gestern der [1][Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg (EGMR)]
       die Türkei verurteilt. Die massenhafte Inhaftierung von insgesamt 427
       Richtern und Staatsanwälten im Anschluss an den Putschversuch im Sommer
       2016 in Untersuchungshaft war rechtswidrig.
       
       Für die türkische Regierung und insbesondere Staatspräsident Recep Tayyip
       Erdoğan, gegen den sich [2][der Putschversuch] ja richtete, ist es erneut
       eine juristische Ohrfeige. Könnte man in Straßburg darüber befinden, würde
       wohl die gesamte justizielle Behandlung der über 50.000 Angeklagten im
       Anschluss an den Putsch als nicht rechtsstaatlich bewertet werden.
       Massenhaft, in Prozessen mit bis zu 500 Angeklagten, wurden Menschen, denen
       eine Nähe zur Gülen-Sekte unterstellt wurde, verurteilt, ohne dass
       überhaupt versucht wurde, ihnen eine individuelle Schuld nachzuweisen.
       
       Dass die türkische Regierung das Urteil umsetzen wird und den
       Beschwerdeführern tatsächlich die verlangten 5.000 Euro Schadenersatz
       zahlen wird, ist höchst zweifelhaft. Erdoğan ist längst dazu übergegangen,
       Urteile des EGMR zu ignorieren. Dabei spielen vor allem zwei Fälle eine
       prominente Rolle: die des früheren Vorsitzenden der kurdisch-linken HDP,
       Selahattin Demirtas, der mittlerweile seit 5 Jahren in U-Haft sitzt, und
       der Fall des Kulturmäzens Osman Kavala, der seit gut 4 Jahren inhaftiert
       ist.
       
       In beiden Fällen hatte der EGMR mehrfach die Freilassung gefordert, was von
       Erdoğan persönlich abgelehnt wurde. Als Ende Oktober zehn westliche
       Botschafter Erdoğan aufforderten, das EGMR-Urteil zu Kavala umzusetzen, kam
       es zu einem diplomatischen Eklat, bei dem Erdoğan sogar mit der Ausweisung
       der Botschafter drohte.
       
       ## Selbst Russland machte Kompromisse
       
       Schon zuvor hatte der Ministerausschuss des Europarates, dessen wichtigste
       Institution das Menschenrechtsgericht ist, der Türkei damit gedroht, falls
       Osman Kavala nicht bis zum 30. November freigelassen wird, [3][ein
       Ausschlussverfahren aus dem Europarat einzuleiten]. An diesem Freitag wird
       der Prozess gegen Osman Kavala fortgesetzt. Das ist die letzte Möglichkeit,
       Kavala aus der U-Haft zu entlassen, um noch einen Bruch mit dem Europarat
       zu vermeiden.
       
       Jetzt muss sich zeigen, ob Präsident Erdoğan noch ein Interesse daran hat,
       mit europäischen Institutionen zusammenzuarbeiten, denn ein Rauswurf aus
       dem Europarat, den bislang selbst Russland und Aserbaidschan durch
       Kompromisse vermieden haben, würde auch für die Zusammenarbeit mit der EU
       nicht ohne Folgen bleiben.
       
       Viele Menschen in der Türkei hoffen deshalb, dass Kavala freikommt – nicht
       nur wegen Osman Kavala selbst, sondern damit die Möglichkeit, sich an den
       Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg wenden zu können, erhalten bleibt.
       
       23 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.coe.int/de/web/portal/gerichtshof-fur-menschenrechte
   DIR [2] /Justiz-in-der-Tuerkei/!5731490
   DIR [3] /Streitfall-Osman-Kavala-in-der-Tuerkei/!5807125
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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