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       # taz.de -- Vor dem Koalitionsvertrag: Das ABC der Ampel
       
       > Diese Woche soll der Koalitionsvertrag vorgestellt werden. Bis dahin
       > beschäftigen wir uns mit Wörtern, die uns verdächtig häufig untergekommen
       > sind.
       
   IMG Bild: Funken sprühende Rhetorik: Deutschland erwartet den Koalitionsvertrag
       
       Stabil 
       
       Unter Merkel war alles „stabil“ – für wen auch immer (vermutlich
       Investor*innen). Keine Sorge, das soll so bleiben! Schon im
       Sondierungspapier schreiben die Ampelparteien fest, es braucht eine
       „stabile und verlässliche Regierung“, [1][die FDP gelobt auf ihrer
       Webseite], „auf dem Weg in eine stabile Regierung“ zu sein.
       
       Ebenfalls im Namen der „Stabilität“ (diesmal der Koalitionsverhandlungen)
       wollen die Grünen, so munkelte die FAZ, dem FDP-Chef das Finanzministerium
       überlassen. Lindner könne sonst „gedemütigt“ in die Verhandlungen gehen.
       Hier bezeichnet „Stabilität“ das Wegducken vor einer Auseinandersetzung,
       gibt sich aber einen vernünftigen Anstrich. Und das, wo sogar
       Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz scharf davon abgeraten hatte,
       Lindner mit seiner Politik der „Anhäufung konservativer Klischees“ ein
       solches Amt zu vermachen.
       
       Der unternehmensnahe und unter Korruptionsverdacht stehende österreichische
       Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) wiederum hat sich erdreistet, sich
       Lindner als Amtskollegen zu wünschen – mit der Hoffnung auf, na?, „stabile
       Finanzen“. Was ist gemeint? Gernot jedenfalls ist etwa bekannt für seinen
       [2][Kampf gegen die Finanztransaktionssteuer auf EU-Ebene – also gegen
       regulierte Finanzmärkte.]
       
       „Stabilität“ ist ein praktisches Wort – es klingt nach Sicherheit und
       bleibt gleichzeitig so vage, dass eigentlich alles damit gemeint sein
       könnte. Bleibt etwas beim Alten (zum Beispiel: kein Tempolimit auf
       Autobahnen), ist das Stabilität im Sinne von Kontinuität. Kommt hingegen
       etwas Neues (zum Beispiel: eine „stabile Reformregierung“, FDP), dann
       geschieht es doch irgendwie auch für den Status quo, weil ein
       vermeintliches Ungleichgewicht austariert werden muss.
       
       Sogar das Umkrempeln eines bestehenden Systems kann bei Bedarf „stabil“
       sein. Kanzlerkandidat Olaf Scholz will etwa im Namen einer [3][„stabilen
       Altersvorsorge“] die Renten kapitalisieren. „Jetzt stabile Renten wählen“
       war auf seinen Wahlplakaten zu lesen. Auch im Sondierungspapier heben die
       Ampelparteien die „Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz“
       hervor. Die Ironie dabei: Eine Rente, die mit den Aktienkursen Achterbahn
       fährt, ist faktisch schwankend, also instabil. Und der besonders fiese
       Trick: Sogar die einzelne Geringverdienerin wird Interesse an einem
       „stabilen“ Finanzmarkt haben müssen, weil plötzlich der Grad ihrer
       Altersarmut davon abhängt. Da beißt sich der Klassenkampf selbst in den
       Schwanz! Stabile Leistung der Ampel gegen den Sozialstaat.
       
       Innovativ 
       
       Die Schnittmenge der Scheinheiligkeiten von FDP und Grünen ist in einem
       Wort benannt: „innovativ“. Es ist der Inbegriff von grün angestrichenem
       Kapitalismus. Die Ampel will wohl nicht zuletzt deshalb ein „innovatives
       Bündnis“ sein, will für „innovative Geschäftsmodelle“ in der Arbeitswelt
       sorgen und hat in den Koalitionsverhandlungen zwei Arbeitsgruppen mit dem
       Begriff versehen: „Digitale Innovation und Infrastruktur“ und
       „Innovation, Wissenschaft, Hochschule und Forschung“.
       
       Alles und nichts kann hinter „innovativ“ stecken – oft aber ist es Technik,
       die viele kostbare Ressourcen verbraucht und Konsumbedürfnisse schafft, die
       es vorher nicht gab. Gleichzeitig hört sich „innovativ“ immer auch nach
       Klimaschutz an, wegen modern und so. Im Gegensatz zu stabil zielt
       „innovativ“ zwar auf Veränderung ab und damit tut Deutschland sich schwer.
       Es klingt aber zu sehr nach Fortschritt, als dass man ablehnen könnte.
       
       Schon vor den Verhandlungen hat die Ampel sich darauf verständigt, etwa die
       Bundesagentur für Sprunginnovation („Sprin-D“) auszubauen.
       [4][Sprunginnovationen] sind Dinge wie Internet oder Autos –
       Erfindungen, ohne die man sich den Alltag nicht mehr vorstellen kann.
       Aktuell wird die Sprin-D mit einer Milliarde öffentlicher Gelder pro
       Jahrzehnt gefördert, das soll also erhöht werden. Moment mal, brauchen wir
       wirklich schon wieder so was wie Autos?
       
       Gemeinsam 
       
       Die Klimakrise, die Coronakrise – alle mal kurz in den Stuhlkreis und an
       den Händen fassen, bitte gemeinsam lösen! Solange bei „gemeinsam“ nicht
       tatsächlich Menschen zusammenkommen und faktisch mitbestimmen oder
       mitmachen, verleiht das Wort zwar den gewollten Hauch von Solidarität, ist
       aber zuverlässig sinnentleert. Wie man die Klimakrise „gemeinsam
       bewältig[t]“ (Sondierungspapier) und wer bei dem „Gemeinsam“ überhaupt
       mitmachen soll, bleibt jedenfalls unklar. Auch die Ampel will alles
       gemeinsam machen. So fühlen sich SPD, Grüne und FDP „gemeinsam dem
       Fortschritt verpflichtet“, haben die „gemeinsame Aufgabe, Deutschland auf
       den 1,5-Grad-Pfad zu bringen“, und die „gemeinsame Mission, den Ausbau der
       Erneuerbaren Energien drastisch zu beschleunigen“; sie wollen für die
       Außenpolitik „gemeinsame Strategien entwerfen“ (alles Zitate aus dem
       Sondierungspapier).
       
       „Echten Erfolg gibt’s nur gemeinsam!“, [5][twitterte konsequent der Grüne
       Cem Özdemir] aus der Koalitions-Arbeitsgruppe rund um Wirtschaft. Ob ihm
       der Satz angesichts grüner Zugeständnisse in allen Bereichen mittlerweile
       bitter schmeckt?
       
       Einsetzen 
       
       Die Königin der Unverbindlichkeit: Wer sich für etwas „einsetzt“, hat sich
       Mühe gegeben. Hört man bei „innovativ“ und „Fortschritt“ immer die gelbe
       Färbung mit, ist „sich einsetzen“ durch und durch ein Wort der Grünen, die
       bei ihren Niederlagen nicht komplett das Gesicht verlieren wollen.
       
       Was sie bei FDP und SPD nicht durchsetzen können, bleibt unter dieser
       Formel wenigstens als Eventualität stehen. „Wir werden uns für mehr
       Vielfalt in der Arbeitswelt einsetzen“, versprechen also die Ampelparteien,
       kurz bevor sie in Verhandlung gehen. „Aktiv“ sogar wolle man sich „für die
       Einführung einer globalen Mindestbesteuerung einsetzen“.
       
       Und im Arbeitspapier der Koalitions-AG „Finanzen“, [6][so leakt die SZ],
       steht in grüner Farbe (es fehlt also die Zustimmung der anderen Parteien):
       „Gegen die Aufnahme von Atomkraft und Gas als nachhaltige Technologien wird
       sich die Bundesregierung aktiv einsetzen.“ Die alte Kamelle Atomkraft ist
       wieder da! Und die Grünen wollen sich zaghaft dagegen einsetzen. Dazu passt
       vom Tonfall her, dass der Kohleausstieg „idealerweise“ 2030 kommen soll.
       Tapfer.
       
       Fortschritt & Aufbruch
       
       Bevor das Bild des übermüdeten Grünen-Co-Chefs Robert Habeck viral ging,
       schwärmte dieser von einer „Fortschrittsregierung“. Noch-SPD-Chef Norbert
       Walter-Borjans sieht „einen echten Aufbruch“ kommen. Olaf Scholz findet:
       [7][„Das Land braucht einen Aufbruch“] und will eine Regierung, „die für
       Aufbruch und Fortschritt“ steht. Alle drei Parteien schreiben, „dass
       Deutschland einen Aufbruch braucht“, an manchen Stellen auch einen
       „digitalen Aufbruch“.
       
       Sicher ist: Am Ende der Legislaturperiode wird das alles wieder alt und
       verbraucht aussehen. Aufbruch, Wandel und Fortschritt gibt es alle vier
       Jahre wieder.
       
       Mittelstand 
       
       Definitiv ein Wort aus Christian Lindners Hausaufgaben- beziehungsweise
       Vokabelheft. „Unser Mittelstand braucht Luft zum Atmen“, [8][sagt er dem
       Mittelstandsbund kurz vor der Wah]l, dem [9][„Mittelstand den Rücken
       stärken“] wollte er in einem Springer-TV-Duell und schon 2017 erhielt
       Christian Lindner den (kein Witz!) Elite-Mittelstandspreis für seinen
       „unermüdlichen und langjährigen Einsatz“ für den Mittelstand. Sponsored by
       Deutsche Bank AG, BMW AG und vielen anderen, die sich dem „Mittelstand“
       zugehörig fühlen. Danke, Lindner! Wobei der Applaus auch dem wohl künftigen
       Kanzler Olaf Scholz gebührt, der diesen Preis schon zwei Jahre vorher
       erhielt.
       
       Aber zurück zum Wort „Mittelstand“. Man denkt da an ganz normale Leute,
       nicht reich, nicht arm, eben aus der Mitte. Der Eindruck einer Politik „für
       alle“ schwingt mit. Wen Lindner damit eigentlich meint, hat er indirekt
       schon 2020 verraten. [10][Da schlug Saskia Esken (SPD)] eine einmalige
       Vermögensabgabe für Reiche vor, um gut durch die Coronakrise zu kommen.
       
       [11][Lindner empörte] sich darüber. „Der Mittelstand“ habe lange die
       Politik finanziert, jetzt müsse er „um seine Existenz“ kämpfen, klagte er.
       In Eskens Vorschlag war die Rede von Vermögen ab einer Million Euro.
       [12][So viel besitzt allerdings nur eine kleine Minderheit (circa 1,8
       Prozent der Bevölkerung) in Deutschland] – manche nennen diesen
       „Mittelstand“ auch Oberschicht.
       
       Und da die Zeiten des Wahlkampfs vorbei sind, können die Ampelparteien,
       also auch Eskens SPD, sich nun gemeinsam für eben diesen
       Millionärs-Mittelstand stark machen.
       
       Das mit der Vermögenssteuer war dann auch schnell vom Tisch – schon vor den
       Koalitionsverhandlungen. Dabei hatten Gewinnerparteien SPD und Grüne sich
       das vorher ins Programm geschrieben. Aber, ach: Man hatte sich über eine
       solche Steuer für Reiche aka Mittelstand „nicht verständigen können“,
       kommentierte Malu Dreyer (SPD) Mitte Oktober. Stattdessen soll die
       rot-grün-gelbe Wirtschaftspolitik sich auf einen „wettbewerbsfähigen
       Mittelstand“ ausrichten (Sondierungspapier).
       
       22 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.fdp.de/auf-dem-weg-eine-stabile-regierung
   DIR [2] https://kontrast.at/thomas-schmid-chats/%20%20
   DIR [3] https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/wahlen/bundestagswahl/ampel-koalition-verhandlungen-konkret-spd-gruene-fdp-knackpunkte-100.htm
   DIR [4] http://%20https://www.deutschlandfunk.de/agentur-fuer-sprunginnovationen-um-erfolg-zu-haben-muessen-100.html
   DIR [5] https://twitter.com/cem_oezdemir/status/1459174941862113283%20
   DIR [6] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ampel-koalition-1.5463973
   DIR [7] https://www.vorwaerts.de/artikel/olaf-scholz-ampel-projekt-modernisierung
   DIR [8] https://www.mittelstandsbund.de/themen/allgemein/christian-lindner-verraet-dem-dmb-was-der-mittelstand-braucht/
   DIR [9] https://www.christian-lindner.de/aktuell/dem-mittelstand-den-rucken-starken
   DIR [10] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-04/lastenausgleich-coronavirus-vermoegensabgabe-saskia-esken-spd?fbclid=IwAR1F2m4V5QuA6TUF45XjrwDQ3zFOP9cS4dp-moKYINRrNKnm7EteTunBFQU
   DIR [11] https://twitter.com/c_lindner/status/1245267577632247809?lang=gl%20%E2%80%8B%20%20Mittelstand%3F%E2%80%8B
   DIR [12] https://www.faz.net/aktuell/finanzen/die-zahl-der-millionaere-in-deutschland-steigt-auf-1-5-millionen-17411789.html
       
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