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       # taz.de -- Impfgegner gegen die Demokratie: Freiheit als Ersatzmythos
       
       > Impfgegner pochen auf individuelle Freiheit und wähnen die Demokratie am
       > Ende. Doch nebst der Irrationalität sind sie auch ein Symptom für etwas.
       
   IMG Bild: Freiheit gegen Diktatur – das ist das Framing der Impfgegner, hier bei der großen Demo in Wien
       
       Die Pandemie samt ihren „Querdenkern“ wirft auch die Frage auf: Was ist
       Demokratie heute? Demokratie ist eine Regierungsform: mit ihren Verfahren,
       Institutionen, Regeln. Das ist ihre Realität. Sie braucht aber noch etwas
       anderes: einen Glauben. Den Glauben an Souveränität, an Legitimität, an
       Gerechtigkeit. Dieser Glaube ist der Mythos der Demokratie. Das ist kein
       falscher Mythos, den es aufzuklären gilt, sondern ein Mythos, der sie
       stützt. Demokratie ist Realität und Mythos zugleich.
       
       Demokratie ist heute einer der zentralen Mythen. Sie ist unantastbar.
       Unantastbar aber ist das, was einer Gesellschaft heilig ist. Demokratie ist
       der Horizont unserer Moral – sie bestimmt unsere Werteskala zwischen
       demokratisch und undemokratisch. Sie ist unsere Formel für Recht, für
       Ordnung. Demokratie ist unsere Beschwörungsformel für alles Gute.
       
       Man könnte auch sagen: Die Rede von der Demokratie ist unser Fetisch.
       Gleichzeitig aber gibt es den ständigen, den drängenden Chor jener, die uns
       zurufen: Die Souveränität des Volkes ist entleert. Dieser Inbegriff unserer
       Gesellschaft wird immer blasser. Vage. Unbestimmt. Eine leere Formel, eine
       leeres Zeichen.
       
       Also was nun – ausgehöhlte Form oder Heiligtum? Oder gar: Heilig, weil sie
       leer ist? Dann aber wäre Demokratie nur eine tote Form.
       
       ## Nur noch individuelle Freiheit
       
       Tatsächlich wird um ihre Bedeutung gerungen. Diese ist also veränderbar.
       Und genau das zeigt sich derzeit: Die Bedeutung des demokratischen Mythos
       hat sich verändert. Denn dieser meint heute: individuelle Freiheit. Das ist
       keine Entleerung. Es ist vielmehr ein Ersatz-Mythos. Demokratie meint heute
       nicht mehr den Glauben an Gleichheit oder an Volkssouveränität, sondern
       meint nur noch den Glauben an individuelle Freiheit.
       
       Individuelle Freiheit ohne das Versprechen einer Herrschaft des Volkes,
       ohne die Vorstellung einer Selbstgesetzgebung. In den Konzepten einer
       kollektiven Macht findet man sich nicht wieder. In der individuellen
       Freiheit schon. Demokratie wird zu einem Kurzschluss zwischen dem Ich und
       einem imaginären Demos. Wir glauben an die Demokratie als Gütesiegel
       unserer individuellen Freiheit. Sie ist es, die wir beschwören.
       
       Die Pandemie hat das Politische verändert. Sie hat eine sichtbare Rückkehr
       des Staates mit seiner Entscheidungsgewalt gebracht. Aber Entscheidung ist
       immer der Kern des Politischen. Sie ist nicht die Fratze der Demokratie,
       sondern deren Grundlage. Üblicherweise ist sie eine gezähmte
       Entscheidungsgewalt. In der Pandemie aber trat diese blank in Erscheinung.
       
       Ein Credo der Neoliberalen besagt, dass die politischen Verhältnisse nicht
       von allen getragen werden müssen. Aber dieses [1][liberale Konzept versagt
       bei einem Totalereignis] wie einer Pandemie. Denn genau da treten jene auf
       den Plan, die die politischen Verhältnisse nicht mittragen: die
       „Querdenker“, die Impfgegner. Hier soll es nicht um deren Irrationalitäten
       gehen, sondern darum, dass sie noch etwas anderes sind, jedenfalls dort, wo
       sie über den Rechtsextremismus hinausgehen: nämlich ein Symptom.
       
       ## Demokratie gegen Diktatur
       
       Sie treten im Namen der Demokratie auf gegen das, was sie eine „Diktatur“
       nennen – eben weil der Staat derart sichtbar geworden ist. Weil sich dessen
       Entscheidungsgewalt in Vorschriften so deutlich manifestiert. So werden
       Masken und Impfungen zum verhassten Inbegriff dieser Gewalt, die in ihren
       Augen nicht demokratisch sein kann. Warum? Weil diese Entscheidungsgewalt
       eben den demokratischen Mythos antastet: die individuelle Freiheit.
       
       Der organisatorische, der medizinische Umgang mit einem Naturereignis ist
       das eine, der politische Umgang damit ist etwas anderes. Die „Querdenker“
       zeigen unbeabsichtigt: Undemokratisch sind die Maßnahmen nicht im
       politischen, sondern im mythologischen Sinn. Weil sie den Mythos der
       individuellen Freiheit verletzen.
       
       Die „Querdenker“ lehnen die Realität der demokratischen Praxis im Namen des
       demokratischen Mythos ab. Und genau da werden sie zum gesellschaftlichen
       Symptom. Ein Symptom bringt eine Wahrheit in verzerrter Form zum Ausdruck:
       Dass nämlich demokratische Realität und demokratischer Mythos kollidieren.
       Dass sie nicht mehr übereinstimmen.
       
       In verzerrter Form zeigt sich hier: Die neue Realität staatlicher
       Entscheidungsgewalt und der Mythos von der individuellen Freiheit driften
       auseinander.
       
       23 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
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