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       # taz.de -- Journalist aus Nicaragua über Zensur: „Keine unabhängigen Stimmen“
       
       > Die wichtigsten Medien sind geschlossen worden, die Opposition sitzt im
       > Gefängnis. Investigativjournalist Carlos Fernando Chamorro erklärt seine
       > Arbeit im Exil.
       
   IMG Bild: Journalist Carlos Fernando Chamorro
       
       taz am Wochenende: Herr Chamorro, seit Juni machen sie Journalismus aus dem
       Exil. Wie funktioniert das? 
       
       Carlos Fernando Chamorro: Das kann ich eigentlich nicht beantworten, denn
       damit würde ich unsere Netze offenlegen. Nur so viel: Es funktioniert dank
       des Internets und der sozialen Medien. Unsere Redaktion befindet sich in
       Costa Rica. Ich musste ja im Juni zum zweiten Mal ins Exil gehen. Es ist
       immer schwieriger, weil die [1][Meinungsfreiheit in Nicaragua immer stärker
       unterdrückt] wird. Es gibt praktisch keine unabhängigen Stimmen, die wir
       zitieren können. Die meisten sind im Gefängnis oder im Exil: Ökonomen,
       Anwälte, Ärzte, Priester. Kaum jemand will mit Namen genannt werden. Wir
       müssen die Identität unserer Informanten schützen. Viele Leute fürchten
       Repressalien und sagen lieber gar nichts. Es gibt mehrere Fälle von Leuten,
       die nach öffentlichen Äußerungen verfolgt wurden.
       
       Können Sie da ein Beispiel nennen? 
       
       Miguel Mendoza ist eigentlich ein Sportjournalist, der sich aber politisch
       in sozialen Medien äußert. Er wurde im Juni wegen „Akten gegen die
       Souveränität und Unabhängigkeit“ verhaftet. Dafür wurde eigens ein
       Gummiparagraf in einem neuen Gesetz geschaffen. Der Politologe José Antonio
       Peraza hat mir an einem Sonntag ein Interview gegeben, in dem er
       feststellte, dass die Wahlen vom 7. November nicht die [2][Voraussetzungen
       für eine Beteiligung der Opposition bieten würden]. Am Abend haben sie ihn
       festgenommen und eine Anzeige wegen Hochverrats konstruiert. Die
       Menschenrechtsanwältin María Oviedo sitzt im Gefängnis, weil sie politische
       Gefangene verteidigt und ihre Meinung über die Prozesse geäußert hat.
       
       Sie hatten bis vor Kurzem die erfolgreiche Fernsehsendung „Esta Semana“, in
       der politische Analysen mit Experteninterviews verknüpft wurden. Wie geht
       es damit weiter? 
       
       Meine Fernsehsendungen sind de facto verboten. Kein Kanal wagt es, sie zu
       bringen. Sie werden mit Sperrungen bedroht. Da braucht es gar keine offene
       Zensur. Ich veröffentliche [3][„Esta Semana“ jetzt bei Youtube] und
       Facebook. Auf Youtube haben wir mehr als 320.000 Abonnenten, davon leben
       mehr als 70 Prozent in Nicaragua.
       
       Unabhängiger Journalismus spielt sich also nur mehr im Netz ab? 
       
       Nicht ganz. Es gibt noch die privaten TV-Sender Canal 10 und Canal 12 und
       ein paar Radios, aber auch deren Existenz ist bedroht, unabhängige
       Zeitungen gibt es nicht mehr. El Nuevo Diario hat vor ein paar Jahren
       schon dichtgemacht. La Prensa ist von der Polizei besetzt und funktioniert
       nur noch online. Die Polizei hat nicht nur die Redaktion gestürmt, sondern
       auch die kommerzielle Druckerei. Der Geschäftsführer, mein Cousin Juan
       Lorenzo Holmann, sitzt im Gefängnis.
       
       Ohne die Augen und Ohren der Leute in Nicaragua könnten wir nicht arbeiten.
       Natürlich müssen wir die Informationen überprüfen. Es gibt auch Leute in
       staatlichen Institutionen, die uns Informationen liefern. Wir haben in
       Confidencial mehrmals über Skandale in Ministerien und Institutionen
       berichtet, zum Beispiel im Gesundheitsministerium, im Bildungsministerium
       oder in der Zentralbank. Natürlich müssen wir diese Informanten schützen.
       
       Vor ein paar Wochen hat Facebook eine nicaraguanische Trollfabrik
       geschlossen. Was ist da passiert?
       
       Das waren Hunderte von Fake-Accounts, mit denen das Regime in den sozialen
       Medien Stimmung gegen Regimekritiker gemacht hat. Das lief vor allem über
       das Telekommunikationsinstitut Telcor, über den Obersten Gerichtshof und
       die Sandinistische Jugend, der Parteijugend, die von der Vizepräsidentin
       gesteuert wird.
       
       Ihre Schwester Cristiana Chamorro hätte bei den Wahlen große Chancen
       gehabt. Bevor sie zur Einheitskandidatin der Opposition gewählt werden
       konnte, wurde sie unter Hausarrest gestellt. Ist sie noch immer isoliert? 
       
       Ja, der Hausarrest unterscheidet sich von der Gefängniszelle insofern, dass
       sie Besuch von ihren Kindern empfangen darf. Sonst dürfen nur die
       Hausangestellten hinein. Die Polizei steht vor der Tür. Sie hat keinen
       Zugang zu Telefon oder Internet. Noch drei weitere Personen stehen unter
       Hausarrest: der Unternehmer Noel Vidaurre, der TV-Kommentator Jaime
       Arellano, und María Fernanda Flores, die Frau des Ex-Präsidenten Arnoldo
       Alemán.
       
       Von den 36 politischen Gefangenen, die vor den Wahlen festgenommen wurden,
       sitzen vier Frauen seit Monaten in Einzelhaft, es sind die Anführerinnen
       der Partei Unamos, die früher Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS)
       hieß: Dora María Téllez, Tamara Dávila, Ana Margarita Vigil und Suyén
       Barahona. Die anderen 32 Gefangenen teilen ihre Zellen zu zweit, sind aber
       sonst auch total isoliert.
       
       Einigen der Gefangenen wird Geldwäsche vorgeworfen, weil sie ausländische
       Gelder angenommen haben. Da geht es immer wieder um die
       Violeta-Barrios-de-Chamorro-Stiftung. Die Stiftung Ihrer Mutter.
       
       Diese Stiftung wurde mittlerweile geschlossen. Meine Mutter hat sie 1997
       gegründet. Sie widmete sich vor allem der Förderung von freier Presse und
       Meinungsfreiheit und hat Journalistinnen und Journalisten ausgebildet. Ich
       habe weder für mich noch für Confidencial jemals Gelder beantragt und 2013
       bin ich auch aus dem Leitungsrat zurückgetreten. Deswegen ist es besonders
       absurd, dass man mich in Zusammenhang mit dieser Stiftung verfolgt.
       
       Haben die Gefangenen Zugang zu Anwälten? 
       
       Anfang der Woche durften sie zum dritten Mal in fünf Monaten
       Verwandtenbesuch empfangen. Meines Wissens gab es zu den Anwälten nur
       während der richterlichen Anhörung Kontakt. Vertrauliche Gespräche waren
       nicht erlaubt.
       
       Was weiß man über ihren Gesundheitszustand? 
       
       Heute interviewen wir Angehörige. Die Vereinigung der Angehörigen
       veröffentlicht gewöhnlich ein kollektives Statement. Die meisten
       politischen Gefangenen haben zwischen acht und zwanzig Kilo Gewicht
       verloren, weil sie nicht ausreichend ernährt werden und auch keine
       Lebensmittel von der Familie bekommen dürfen. Sie werden mindestens zweimal
       täglich verhört. Einige stecken in Zellen, wo 24 Stunden das Licht brennt,
       andere leben in völliger Dunkelheit. Neben den 40 Gefangenen, die zwischen
       Juni und August in Zusammenhang mit den Wahlen festgenommen wurden, gibt es
       weitere 120 politische Gefangene in verschiedenen Gefängnissen. Das sind
       die Leute, die am friedlichen Aufstand gegen das Regime vom April 2018
       teilgenommen haben. Einige von ihnen wurden freigelassen und dann neuerlich
       eingesperrt, andere sitzen seit über drei Jahren.
       
       Was hat Staatschef Ortega vor? Der Schriftsteller Sergio Ramírez sieht die
       Gefangenen in einem Interview mit der taz als Geiseln für politische
       Verhandlungen. 
       
       Am 8. November hat Ortega die Gefangenen in einer Rede als „Hurensöhne“
       bezeichnet und angedeutet, dass er sie als Hochverräter ausbürgern will.
       Aber Ortega legt seine Karten nicht auf den Tisch. Man weiß nicht, was er
       bezweckt.
       
       Welche Gegenleistung und von wem könnte er für die Freilassung der
       Gefangenen verlangen? 
       
       Er spricht immer von den Sanktionen der USA und der EU. Einige hohe
       Funktionäre, darunter Vizepräsidentin und Präsidentengattin Rosario
       Murillo, und Ortega selbst dürfen nicht mehr in die USA einreisen und deren
       Konten dort wurden eingefroren. Ich meine, diese Sanktionen werden nicht
       ausreichen, um in Nicaragua die politischen Freiheiten wiederherzustellen.
       
       Bei den Wahlen vom 7. November hat Ortega einen Wahlsieg mit 75 Prozent der
       Stimmen beansprucht und der Zentrale Wahlrat gab eine Beteiligung von 65
       Prozent bekannt. Glaubt das jemand in Nicaragua? 
       
       Wir haben bei CID Gallup, einem internationalen Umfrageinstitut, eine
       Umfrage in Auftrag gegeben, wonach 78 Prozent der Befragten nicht an diese
       Wahlen glaubten. Die unabhängige NGO Urnas Abiertas spricht von über 80
       Prozent Stimmenthaltung. Zugang zu den Wahllokalen hatte sie nicht, aber
       1.400 Beobachter haben gezählt, wie viele Wähler hineingingen. Journalisten
       und Privatleute, die für uns Beobachtungen angestellt haben, berichteten,
       dass bis 10 Uhr ein gewisser Andrang herrschte und dann kaum mehr jemand
       wählen ging. Professionelle Wahlbeobachter waren nicht zugelassen. Und
       ausländische Journalisten ließ man erst gar nicht ins Land.
       
       21 Nov 2021
       
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   DIR [1] /Entscheidung-des-EU-Parlaments/!5170864
   DIR [2] /Gesetz-gegen-Opposition-in-Nicaragua/!5740185
   DIR [3] https://www.youtube.com/c/ConfidencialNica
       
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