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       # taz.de -- Gewalttat im Oberlinhaus Potsdam: Widersprüche und Fragen
       
       > Beim Prozess um die Tötung vierer Menschen mit Behinderung sagten
       > Pflegerinnen aus. Die Arbeitsbelastung wurde unterschiedlich bewertet.
       
   IMG Bild: Die angeklagte Pflegekraft beim Prozessauftakt im Landgericht Potsdam am 26. Oktober
       
       Potsdam taz | Eine zugewandte, engagierte und fürsorgliche Mitarbeiterin.
       Auch die Worte „mütterlich“ und „liebevoll“ fallen, als die langjährige
       Leiterin des Thusnelda-von-Saldern-Hauses die Pflegerin Ines R. vor Gericht
       beschreibt. Immer wieder schüttelt sie während ihrer Aussage ungläubig den
       Kopf. Denn Ines R. ist dringend tatverdächtig, Ende April 2021 während
       ihres Dienstes in der Wohneinrichtung in Potsdam [1][vier Menschen mit
       Behinderung getötet zu haben].
       
       Am Donnerstag fand am Landgericht Potsdam der [2][zweite Prozesstag im
       Strafverfahren gegen die ehemalige Pflegerin] statt. Zuvor waren wegen
       einer Corona-Infektion eines Schöffen nach dem Prozessauftakt am 26.
       Oktober die folgenden drei Prozesstage abgesagt worden. Zum Prozessauftakt
       hatte die Staatsanwaltschaft der Angeklagten durch den geplanten Ablauf der
       Gewalttat Heimtücke vorgeworfen. Es besteht wenig Zweifel daran, dass Ines
       R. die Tat begangen hat. Nach einem Gutachten wird bei ihr von [3][einer
       verminderten Schuldfähigkeit] ausgegangen. Im Prozess wird nun die Frage
       gestellt, unter welchen Rahmenbedingungen in der Wohneinrichtung des
       [4][Oberlinhauses] gearbeitet wird.
       
       Dafür wurde am zweiten Prozesstag knapp drei Stunden lang die Leiterin des
       Thusnelda-von-Saldern-Haus als Zeugin befragt. Sie berichtete vom
       Arbeitsalltag in der Pflegeeinrichtung und vom Personalschlüssel. Der
       Vorsitzende Richter Theodor Horstkötter nahm sich viel Zeit, um die
       Arbeitsabläufe in der Wohneinrichtung zu verstehen, stellte viele Fragen zu
       möglichen Belastungen, zu Dienstplänen, zur Handhabung bei spontanem
       Dienstausfall von Kolleg*innen. Auch wurden die unterschiedlichen Aufgaben
       von Pflegefachkräften und Pflegehilfskräften, als letzteres arbeitet Ines
       R. in Potsdam, detaillierter vor Gericht erfragt.
       
       Während ihre ehemalige Vorgesetzte aussagt, schaute Ines R. regungslos in
       den Raum und sucht keinen Blickkontakt. Als die Sprache auf die getöteten
       Menschen kommt, kommen der Leiterin der Einrichtung die Tränen: „Dieses
       Haus ist mein Baby, ich wollte damit etwas für junge Leute erreichen und
       eine Versorgungslücke schließen. Natürlich tut es mir weh, ich kenne jeden
       Einzelnen dort“, so die 50-Jährige, die wie die Angeklagte in Potsdam lebt
       und schon seit vielen Jahren für das Oberlinhaus arbeitet. Mit dem
       Wohnverbund des Thusnelda-von-Saldern-Hauses sollte ein Ort geschaffen
       werden, an dem [5][Menschen mit Behinderung] dauerhaft oder zeitweise
       wohnen können und individueller auf die verschiedenen Bedürfnisse der
       Bewohner*innen eingegangen werden sollte.
       
       ## Ines R. kannte zwei Getötete von Kindesalter an
       
       Die Beziehung zu Ines R. beschreibt die ehemalige Chefin als
       vertrauensvoll, aber auf den dienstlichen Austausch beschränkt. Ines R.
       habe nach Aussage der Hausleiterin zwei der getöteten Menschen schon von
       Kindesalter an gekannt, da sie zunächst in einer Pflegeeinrichtung für
       Kinder mit Behinderung arbeitete. Ihr soll mehrfach angeboten worden sein,
       auch eine andere Tätigkeit im Haus ausüben zu können, etwa stärker in die
       fördernde Arbeit von Bewohner*innen eingebunden zu werden, die auch
       körperlich weniger anstrengend sei: „Frau R. hat immer wieder betont, dass
       sie in der Pflege bleiben möchte und ihr die Förderung nicht liegt“, sagte
       die Leiterin. Auch ein Angebot, wegen einer körperlichen Beeinträchtigung
       in der gleichen Abteilung als Wirtschaftskraft zu arbeiten, habe sie aus
       finanziellen Gründen abgelehnt.
       
       Mehrfach hätte die Leitung Ines R. außerdem angeboten, neben dem Beruf
       zusätzlich eine Teilzeitausbildung zur Pflegefachkraft zu absolvieren. Das
       würde auch finanzielle Vorteile bringen. Das hätte Ines R. mit der
       Begründung ihres Alters abgelehnt: „Ich hätte es ihr zugetraut und sie
       gerne unterstützt, das Know-how hatte sie“, so die Leiterin vor Gericht.
       
       ## Dienstausfälle infolge von Corona
       
       In der Befragung vor Gericht ging es am zweiten Prozesstag hauptsächlich um
       die Arbeitsbelastung in der Pflege, nur selten wurde von den getöteten
       Menschen gesprochen. Corona habe auch im Oberlinhaus durch
       Quarantäneverordnungen spontane Dienstausfälle gebracht, außerdem sei in
       der Wohngruppe von Frau R. 2021 eine Mitarbeiterin länger krankgeschrieben
       gewesen, berichtet die Hausleiterin vor Gericht. Spontan einzuspringen
       könne von Mitarbeitenden allerdings abgelehnt werden, es werde also nicht
       erwartet. Für diese Fälle gäbe es Notfallpläne, in denen festgelegt sei,
       welche Aufgaben Priorität hätten und was wegfallen könne. Sollte etwa nur
       eine Person arbeiten, könne nur noch das Nötigste gemacht werden: „Essen,
       Trinken, Medikamente, also die Grundversorgung“, so die Leiterin.
       
       Doch den oft [6][beschriebenen Dauerbelastungszustand in der Pflege]
       beschreibt die Leiterin nicht. Der Personalschlüssel hätte sich nach ihrer
       Aussage in der betreffenden Wohngruppe 2021 deutlich verbessert. Damit
       zeichnet sie ein anderes Bild der Situation in der Einrichtung, als die
       zweite Zeugin des Tages. Die 37-jährige Krankenschwester Franziska S. hat
       von März 2019 bis zum Ende November 2020 in der Wohngruppe gearbeitet. Sie
       berichtete von starker Überlastung, von Übergaben, die nicht klappten und
       von einem Team, das zunehmend auseinanderfiel.
       
       Auch die mutmaßliche Täterin Ines R. hätte regelmäßig von Überlastung in
       ihren Diensten gesprochen. Franziska S. hätte die Bedingungen, unter denen
       sie arbeiten musste und die wenige Zeit, die sie für die Menschen in den
       Wohneinrichtungen aufwenden konnte, als nicht mehr vertretbar empfunden und
       gekündigt. Sie sagte vor Gericht: „Ich habe gekündigt, weil ich das mit
       meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte.“ Auch eine dritte Zeugin,
       die als Altenpflegerin tätig ist und sich als Freundin von Ines R.
       beschreibt, berichtet von Überlastungen bei der Arbeit, ihre Erzählungen
       decken sich im Wesentlichen mit denen ihrer Vorrednerin. Im Anschluss wurde
       noch eine langjährige Therapeutin der Angeklagten vor Gericht befragt.
       Diese schilderte unter anderem, wie auch schon die Angeklagte am ersten
       Prozesstag, die konfliktreiche Beziehung von Ines R. zu ihrer Mutter und
       weitere Vorkommnisse in ihrer Kindheit.
       
       Viele Fragen wurden an diesem zweiten, fast siebenstündigen Prozesstag
       gestellt, es gab manche Widersprüche und es wurden eindrückliche
       Erfahrungsberichte aus dem Pflegealltag gehört. Menschen mit Behinderung,
       die das Thusnelda-von-Saldern-Haus aus der Sicht von Bewohner*innen
       beschreiben könnten, kamen jedoch nicht zu Wort.
       
       11 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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