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       # taz.de -- „Eurotrash“ im Theater: Auch parodierter Schmerz tut weh
       
       > Wer ist cooler, Mutter oder Sohn? Jan Bosse hat Christian Krachts Roman
       > „Eurotrash“ inszeniert. Mit dabei: Angela Winkler und Joachim Meyerhoff.
       
   IMG Bild: Sitzen im selben Boot (wissen es nur nicht): Mutter und Erzählersohn in der Berliner Aufführung
       
       Was bitte ist echt auf dieser Bühne? Jedenfalls nicht die imposante
       Rückwand aus Sichtbeton, dem schweizerischsten aller Baumaterialien, denn
       an den Rändern wirft der Fotoprint Falten. Vermutlich auch nicht die
       Tabletten und Wodkaflaschen, die [1][Joachim Meyerhoff] ganz zu Anfang
       schwungvoll auf das flache Podest in der Bühnenmitte knallt.
       
       Und sicher nicht der „private“ Joachim Meyerhoff, der sich kurz darauf in
       Christian, den Ich-Erzähler von „Eurotrash“, verwandelt, indem er sich den
       Fake-Bart abreißt, Jeans und Parka auf offener Bühne gegen einen hellblauen
       Anzug, Wildlederschuhe und eine blondgewellte Perücke tauscht.
       
       Was ist echt, was ausgedacht – diese Frage begleitet auch die [2][Lektüre
       von Christian Krachts jüngstem Roman], der sich als autobiografisch ausgibt
       und es in Teilen vermutlich auch ist. Denn einige Randdaten stimmen ja,
       etwa dass der in der Schweiz aufgewachsene Autor Mitte der 90er Jahre den
       Roman „Faserland“ veröffentlichte oder dass sein Vater als Verlagsmanager
       bei Axel Springer steinreich wurde oder dass er ein Internat in Kanada
       besuchte.
       
       Eben dort, so Kracht in seiner [3][Frankfurter Poetikvorlesung 2018,] sei
       er als Schüler missbraucht worden: ein traumatisches Ereignis, von dem aus
       der Schriftsteller an dieser Stelle sein Werk erklärte und doch den
       Wahrheitsgehalt des Autobiografischen in Zweifel zog, denn die Wahrheit sei
       sinngemäß nur in der parodistischen Zuspitzung auszuhalten.
       
       ## Kein Rich-Kid-Lamento
       
       Für die Berliner Schaubühne, an der zuletzt die [4][autofiktionalen Werke
       des Soziologen Didier Eribon] und seines Schülers, des Schriftstellers
       Édouard Louis, zu Theater wurden, ist die Dramatisierung von „Eurotrash“
       in der [5][Regie von Jan Bosse] ein interessantes Gegenstück.
       
       Während die Franzosen die erfahrene Homophobie der Provinz mit den
       Demütigungen des Klassismus erklären, berichtet Kracht aus einer grotesk
       reichen Welt, in der Ich-Erzähler Christian seine psychisch kranke und
       wohlstandsverwahrloste Mutter in Zürich besucht – was Erinnerungen an den
       masochistischen Nazi-Opa und den inzwischen geschiedenen Karrierevater mit
       den „eisblauen“ Augen auslöst, der sich mit Anwesen von Cap Ferrat bis zum
       Genfer See eindeckte.
       
       Mutter und Sohn mieten ein Taxi und fahren mit einer Plastiktüte voller
       Geldscheine gefühlt nach Afrika, tatsächlich aber nur durch die Schweiz.
       Kein Rich-Kid-Lamento, keine Psycho-Innenschau, die man dem „Eurotrash“ eh
       nicht abnehmen würde – sondern eine flirrende, absurde Geschichte voller
       Dialogwitz, die die Abgründe dahinter fast beiläufig aufblitzen lässt.
       
       Diesen Ton greift Joachim Meyerhoff betont munter auf, wenn er sich anfangs
       nicht nur in seiner Rolle, sondern auch in Krachts Text einrichtet. Wie ein
       Gourmet schmeckt er einzelne Formulierungen – „Talfahrt einer Familie, kann
       man das so sagen? – Ja, kann man“ – oder Sätze als Schönsprechübungen
       nutzt, „‚Als ich in der Tür des Hotels stand und in der Tasche den
       Hotelschlüssel suchte‘, te te te, ttt – Titel Thesen Temperamente“, als
       schauspielerische Entsprechung zu Krachts Schreibsound. 
       
       Auftritt der Mutter: Angela Winkler im knallgelben Kleid mit schwarzen
       Tressen und weißem Kragen, Veilchen und aufgeschlagenes Kinn im fahlen
       Gesicht. Ernst setzt sie sich auf einen Stuhl und lässt von Anfang an
       keinen Zweifel an dem, was der Sohn erst später checkt: Sie ist cooler als
       er, auch wenn sie süchtig nach Alkohol, Pillen und seinen Geschichten ist.
       
       ## Boot statt Taxi
       
       Angela Winkler, Joachim Meyerhoff und Krachts Roman, dazu Regisseur Jan
       Bosse, der 2018 mit Meyerhoff und Thomas Melles gleichfalls autofiktionalem
       „Die Welt im Rücken“ am Burgtheater einen Punktsieg landete – was soll da
       schon schiefgehen? Es kommt ein Schiff! Aus dem Bühnenboden fährt es
       hinauf.
       
       Boot statt Taxi: Eine nicht ganz, aber doch leicht aus der Luft gegriffene
       Idee, aus der Fabulierlust von Bühnenbildner Stéphane Laimé geboren. Und es
       hält die beiden beschäftigt, Meyerhoff hat sogar alle Hände voll zu tun,
       muss Masten und Segel aufkurbeln, den Kahn drehen und schmücken, die Mutter
       platzieren. Im Bootsinneren erfährt er, dass die Mutter als 11-Jährige
       vergewaltigt wurde, genau wie er, was sie wusste und doch nicht verhindern
       konnte, überwältigt von der Erinnerung an den eigenen Schmerz.
       
       Doch diese Geschäftigkeit hat ihre Tücken. Sie findet keinen Flow, und da,
       wo er doch mal entsteht, unterbricht sie ihn wieder. Winkler und Meyerhoff
       gelingen tolle Dialog- und Slapstickszenen, etwa beim Wechseln ihres
       Stoma-Beutels, der an unerwarteten Stellen von Christians kackbraunem
       „Ökopulli“, in den bei näherer Betrachtung Hakenkreuze eingestrickt sind,
       hängen bleibt.
       
       ## Wie auf der Titanic
       
       Oder beim Forellenessen, wo Angela Winkler eins-a-getimt erst die Grissini
       auf den Boden pfeffert, dann fast an einer Kirsche erstickt und schließlich
       dem Sohn eine Gabel in den Handrücken rammt: „Siehst du? Du bist real!“
       Oder auf dem Gletscher am Col du Pillon, wo Mutter Kracht auf dem
       Schiffsbug steht wie Kate Winslet auf der „Titanic“, über die Leere in
       ihrer Seele spricht – um plötzlich über ihren Sohn herzuziehen, der immer
       nur John le Carré las statt Flaubert, und überhaupt, warum schreibt er
       nicht wie Marcel Beyer, Daniel Kehlmann oder „Hulebeck“?
       
       Zwischendurch jedoch zieht sich die Reise, vertändelt sich in
       Betriebsamkeit, als gälte es immer noch zu beweisen, dass auch das Theater
       Fake und Budenzauber kann. Bis das Boot wieder im Boden versinkt und das
       Taxi auf dem Parkplatz der Psychiatrie Winterthur hält. „Man müsste ein
       Buch über sie beide schreiben“, habe der Fahrer zum Abschied gesagt.
       
       19 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Eva Behrendt
       
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