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       # taz.de -- Legalisierung von Cannabis: Sind bald alle dicht?
       
       > Die Ampelkoalition will Cannabis legalisieren. Während die einen vor
       > Gefahren warnen, wittern andere ein Milliardengeschäft.
       
   IMG Bild: Hasch-Tütchen, wohin man blickt. Das könnten in Zukunft mehr werden
       
       Tobias Hellenschmidt friemelt einen Schlüssel in das Schloss an der Wand.
       „Waren Sie schon mal in der Psychiatrie?“, fragt er. „Ich meine, in der
       geschlossenen?“ Er entriegelt, drückt die schwere Tür auf. „Ich frage nur,
       weil Sie gleich sehen werden, wie kahl hier alles ist“, sagt er. „Lassen
       Sie sich davon nicht beirren. Das ist wirklich eine tolle Station.“
       
       Hellenschmidt, Glatze, schwarzes Sakko, ist leitender Oberarzt der Kinder-
       und Jugendpsychiatriestation im Vivantes-Klinikum in Berlin-Friedrichshain.
       Wer hier landet, ist in der Regel zwischen 14 und 21 Jahre alt und schwer
       psychisch krank. In den allermeisten Fällen geht es um Psychosen, Manien,
       Persönlichkeitsstörungen und akute Selbstgefährdung. In einigen wenigen
       Fällen aber sind es „Entzugssymptomatiken bei Abhängigkeiten von
       psychotropen Substanzen“, die die jugendlichen Patient:innen in die
       Klinik führen. „Psychotrop“, der Begriff kommt aus dem Griechischen und
       bedeutet „auf die Seele wirkend“. Hellenschmidt verwendet ihn für harte
       Drogen, Cannabis, Alkohol und Nikotin.
       
       Um die 300 Suchtpatient:innen durchlaufen seine Abteilung pro Jahr,
       die meisten davon allerdings auf der offenen Station. Auf die Seele von
       einem Viertel dieser Jugendlichen hat laut dem Psychiater vor allem eine
       Substanz gewirkt: Cannabis. Zwar sei auch sonst alles dabei, betont
       Hellenschmidt. „Heroin, Kokain, Alkohol, Benzodiazepine“ – ein
       verschreibungspflichtiges Medikament, das dämpfend wirkt – „aber fast alle,
       die zu uns kommen, konsumieren zusätzlich auch Cannabis.“
       
       Ausgerechnet diese Substanz will die künftige Bundesregierung nun
       legalisieren. „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an
       Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein“, heißt es
       [1][im Koalitionsvertrag], den SPD, Grüne und FDP vor wenigen Tagen
       vorgelegt haben. Viel mehr als das steht zu dem Thema nicht drin. Das ist
       eine Absichtserklärung, aber noch lange kein Gesetz. Es fehlt ein Zeitplan,
       und so gut wie jedes Detail zu der Frage, wie die Legalisierung genau
       aussehen soll.
       
       Sechzehn Jahre lang wirkte die Drogenpolitik der Bundesregierung wie
       betoniert. „Nur weil Alkohol gefährlich ist, ist Cannabis kein Brokkoli“ –
       dieses Bonmot der Bundesdrogenbauftragten Daniela Ludwig (CSU) wurde zur
       Chiffre dafür, dass sich mit der Union in Sachen Legalisierung ganz sicher
       nichts bewegt. Selbst das 2017 verabschiedete Gesetz, das die Abgabe von
       Cannabis als [2][verschreibungspflichtiges Medikament] vereinfachen sollte,
       kam nur deshalb zustande, weil Patient:innen gegen die Blockade der
       Bundesregierung klagten. Und CBD-Shop-Betreiber:innen, die CBD-Gras mit
       einem THC-Gehalt in fast homöopathischer Dosis vertrieben, wurden bis
       zuletzt strafrechtlich verfolgt.
       
       Und jetzt, mit der neuen Regierung, soll plötzlich alles anders werden?
       
       Seit in der öffentlichen Debatte angekommen ist, dass Grüne, FDP und SPD
       eine Legalisierung favorisieren, wurde viel vor Cannabis gewarnt. Es ergebe
       keinen Sinn, neben dem legalen, aber gefährlichen Alkohol die Tür für eine
       weitere „gefährliche und oft verharmloste“ Droge zu öffnen, sagte etwa
       Oliver Malchow, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in einem
       Interview. Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft pflichtete
       ihm bei.
       
       ## Psychiater warnt vor Hirnschäden bei Jugendlichen
       
       Cannabis sei nicht nur eine Einstiegsdroge, sondern wegen der
       Unkontrollierbarkeit der Zusammensetzung insbesondere für junge Menschen
       eine Gefahr. Auch einige Mediziner:innen stimmten zu. Regelmäßiger
       Cannabiskonsum sei gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden sehr
       gefährlich, erklärte etwa der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater und
       vehemente Legalisierungsgegner Rainer Thomasius. Die Gefahr an einer
       Psychose zu erkranken, erhöhe sich. Das habe eine 2019 in der
       Fachzeitschrift The Lancet Psychiatry veröffentlichte Studie gezeigt.
       
       „Das stimmt“, sagt Psychiater Tobias Hellenschmidt und marschiert schnellen
       Schrittes über den quietschenden Krankenhausflur der
       Jungendpsychiatriestation. „Aber es stimmt nur bedingt.“ Zwanzig Plätze
       gibt es im Friedrichshainer Vivantes-Klinikum für Jugendliche mit
       Abhängigkeitserkrankungen. Fünf sind in der geschlossenen Abteilung, die
       restlichen in der offenen Station. Die Zimmer sind karg, ein Bett, ein
       Regal, viel weiße Wand. Was sich hier beobachten lässt, ist das
       Worst-Case-Szenario jugendlichen Cannabiskonsums.
       
       In der Gemeinschaftsküche der offenen Station sind gerade ein paar
       Jugendliche zugange. Ein schlaksiger Junge, 14 Jahre alt, schwarzer Hoodie,
       ist bereit für ein kurzes Gespräch. Er sei wegen seines Cannabiskonsums
       hier, sagt er. „Auch wegen Opiaten, aber hauptsächlich wegen Cannabis.“ Mit
       13 habe er begonnen zu kiffen. Von da an habe er immer so viel konsumiert,
       wie da gewesen sei. „Egal, ob das zwei Gramm oder 50 Gramm waren. Ich habe
       immer alles weggeraucht.“ Aus der Jugendhilfeeinrichtung, in der er sonst
       lebe, habe man ihn deshalb in die Klinik geschickt.
       
       „Die am stärksten gefährdete Gruppe, eine Abhängigkeit zu entwickeln, sind
       Jugendliche, die psychisch erkrankt sind“, erklärt Hellenschmidt wenig
       später in seinem Büro. Das bedinge sich oft gegenseitig. „Nach allem, was
       wir wissen, ist Cannabis zwar eine Substanz, die bei sehr hohem
       regelmäßigen Konsum über längere Zeit schwere psychische Störungen wie
       Schizophrenie begünstigt und mitunter dazu beitragen kann, dass eine
       Psychose früher im Leben stattfindet.“ Bevor das passiere, müsse aber
       einiges zusammenkommen.
       
       Hellenschmidt argumentiert sachlich, abwägend, wohl wissend, dass
       Wissenschaft selten einfache Antworten liefern kann, vor allem, wenn es um
       die menschliche Psyche geht. „Die Psychose betrifft immer nur einen kleinen
       Teil von Menschen, die wahrscheinlich familiär oder anderweitig vorbelastet
       sind“, sagt er. Schizophrene Patient:innen in einem Vorstadium der
       Erkrankung neigen oft zu hohem Cannabiskonsum. „Eine beginnende Psychose
       geht mit veränderter Selbst- und Fremdwahrnehmung einher“, sagt der
       Psychiater. „Da kann es sein, dass Patient:innen eine Substanz
       konsumieren, die sie beruhigt.“ Man könne nicht immer sagen, was zuerst da
       war – dafür seien die Zusammenhänge zu komplex.
       
       Eindeutigere Studien als zum Thema Psychose gebe es in Bezug auf
       Gedächtnis, Schulleistungen und Intelligenz. „In einer Phase, in der die
       Gehirnentwicklung voll im Gange ist, können sich extern zugefügte
       Cannabinoide negativ auf Gedächtnis- und Lernleistungen auswirken“, sagt
       der Psychiater. Man könne deshalb davon ausgehen, dass Cannabiskonsum im
       jugendlichen Gehirn eigentlich immer schädlich sei.
       
       Dennoch steigt der Cannabiskonsum von Jugendlichen seit Jahren
       kontinuierlich – auch trotz des bislang geltenden Verbots. Das zeigt die
       jährlich von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
       veröffentlichte Drogenaffinitätsstudie. 2011 hatten nur 6,7 Prozent der
       Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren schon einmal Cannabis konsumiert.
       2019 war es schon mehr als jeder zehnte.
       
       Ob diese Zahlen mit einer Legalisierung steigen? „Das weiß niemand“, sagt
       Hellenschmidt.
       
       Jedenfalls ist keine Substanz mit berauschender Wirkung in Deutschland seit
       Jahrzehnten so beliebt wie Cannabis – und das nicht nur bei Jugendlichen.
       Das Bundesgesundheitsministerium geht von insgesamt 3,11 Millionen
       Konsument:innen aus. Ob jemand dabei nur einmal an einem Joint gezogen
       hat oder täglich mehrere Gramm wegraucht, wird nicht erfasst. Klar ist
       aber: Der Anteil derjenigen, egal welchen Alters, die im selben Jahr
       irgendeine andere illegale Droge konsumierten, liegt deutlich darunter.
       Nicht jede Person, die kifft, greift automatisch zu Härterem.
       
       Hinzu kommt: Nur ein Bruchteil aller kiffenden Menschen muss in Behandlung.
       Lediglich zwei Prozent benötigen eine ambulante Therapie, nur etwa ein
       Prozent eine stationäre. Auffällig ist allerdings: Die überwiegende
       Mehrheit der Cannabisabhängigen ist unter 30 und männlich. „Grob
       vereinfacht kann man sagen: Je älter man ist, desto weniger schädlich
       scheint Cannabiskonsum zu sein“, sagt Hellenschmidt.
       
       Aber wie dafür sorgen, dass Jugendliche nicht kiffen?
       
       Sie wie Kriminelle zu behandeln, helfe jedenfalls nicht, sagt der
       Psychiater. Er ist trotz aller Risiken für eine Entkriminalisierung der
       Substanz. „Dass jemand, der auf einer Party einen Joint konsumiert, deshalb
       nicht gleich seinen Ausbildungsplatz verliert, weil er vorbestraft ist,
       scheint mir sehr sinnvoll zu sein.“ Auch eine strenge Altersbegrenzung
       helfe vermutlich nicht viel. Auch deshalb, weil die Legalisierung nicht
       zwingend zu einem Ende der illegalen Schattenwirtschaft führt.
       
       „Wenn bei einer Legalisierung ein bestimmter THC-Gehalt gesetzlich
       vorgeschrieben ist, dann wird es weiterhin illegale Produkte geben, die
       mehr THC enthalten“, gibt er zu bedenken. „Die werden wahrscheinlich auch
       billiger sein, weil die Besteuerung wegfällt.“
       
       Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien steht zu diesen Fragen nichts. Hier
       kommt es also auf die Ausgestaltung der Gesetze an.
       
       Wichtiger als Jugendschutz sei eine gezielte und auf bestimmte Gruppen
       zugeschnittene Prävention. „Warenkunde ohne Moral“, nennt Hellenschmidt
       das. „Man muss Jugendliche mit Wissen ausstatten, das ihnen im besten Fall
       zu einer aufgeklärten Entscheidung verhilft.“ Das sei im Grunde die einzige
       Chance.
       
       Denn wenn es um den Genussmittelmarkt geht, sind Lobbyismus und
       Wirtschaftsinteressen nicht weit. Immerhin hier hat die Koalition
       vorgebaut. „Wir verschärfen die Regelungen für Marketing und Sponsoring bei
       Alkohol, Nikotin und Cannabis“, lautet ein Satz im Koalitionsvertrag.
       
       Einer der wichtigsten Lobbyisten in Sachen Cannabislegalisierung kommt
       allerdings nicht aus der Wirtschaft, sondern aus der Justiz. Es ist der
       60-jährige Jugendrichter Andreas Müller, der seit 1997 am Amtsgericht
       Bernau nahe Berlin wirkt und sich unter anderem einen Namen mit besonders
       harten Urteilen für jugendliche Neonazis gemacht hat. „Mein Lebensinhalt
       besteht darin, eine andere Drogenpolitik herbeizuführen“, sagt Müller. Es
       klingt wie ein Scherz, wie vieles, was er in seiner knorrig-jovialen Art
       sagt. Aber es ist keiner.
       
       Als die Grünen als Oppositionspartei schon 2015 und 2018 Versuche
       unternahmen, Cannabis zu legalisieren und einen Entwurf für ein
       Cannabiskontrollgesetz formulierten, schrieb der Richter daran mit. Anders
       als der Koalitionsvertrag regelt dieser Entwurf die Legalisierung bereits
       bis ins Detail. „Cannabis wird aus den strafrechtlichen Regelungen des
       Betäubungsmittelgesetzes herausgenommen“, heißt es darin. Stattdessen werde
       ein strikt kontrollierter legaler Markt für Cannabis eröffnet.
       
       „Um dieses Ziel zu erreichen, muss die gesamte Handelskette für Cannabis
       (Anbau, Großhandel, Import/Export, Einzelhandel) reguliert werden.“ Nach
       dem Gesetzentwurf der Grünen soll Volljährigen der Besitz von bis zu 30
       Gramm Cannabis gestattet sein. Die Aufzucht von bis zu drei weiblichen,
       blühenden Cannabispflanzen wäre zudem im Eigenanbau erlaubt. Gekifft werden
       dürfte dort, wo auch geraucht werden darf. Für den Straßenverkehr würde
       analog der Promillegrenze ein Grenzwert für Cannabis eingeführt.
       
       Die FDP, die sich ebenfalls seit Jahren für eine liberale Drogenpolitik
       stark macht, enthielt sich 2020 bei der Abstimmung. Der Vorstoß der Grünen
       kam nicht durch. Der Gesetzentwurf habe „erhebliche Mängel“, twitterte
       Wieland Schinnenburg, damals der Drogenpolitische Sprecher der FDP. Seine
       Partei habe mehrere Änderungsanträge gestellt. Die hätten die Grünen jedoch
       abgelehnt. Nun werden die Regierungsparteien einen Kompromiss finden
       müssen, wollen sie ihre Legalisierungspläne realisieren. Dass es überhaupt
       so weit gekommen ist, hat auch mit Andreas Müller zu tun.
       
       „Das Thema Cannabis beschäftigt mich seit dem elften Lebensjahr“, sagt er
       ernst. „Mein Bruder hat gekifft, mein Vater hat gesoffen.“ Der Vater starb,
       der Bruder landete im Gefängnis. „Der war der Hascher, der Gammler, und ich
       konnte nicht verstehen, warum er stigmatisiert und kriminalisiert wird.“
       Also habe er Jura studiert. Mitte der Neunziger wurde er Richter in
       Brandenburg.
       
       Seit 2019 setzte er mehrere Verfahren wegen des Besitzes von geringen
       Mengen Cannabis aus und erklärte, dass er alle Regelungen des
       Betäubungsmittelgesetzes in Bezug auf Cannabis für verfassungswidrig hält.
       Ein Befangenheitsantrag der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) gegen ihn
       wurde von zwei Instanzen abgelehnt.
       
       ## Jugendrichter kämpfte für Legalisierung
       
       Im April 2020 schickte er 140 Seiten Vorlage ans Bundesverfassungsgericht
       und forderte seine Kollegen auf, die Verfassungsmäßigkeit des
       Betäubungsmittelgesetzes in Bezug auf Cannabis zu prüfen. Eine Entscheidung
       steht aus. „Artikel 3 Grundgesetz: Gleichheitsgrundsatz“, sagt Müller. „Man
       darf sich betrinken in diesem Staat, bis zum geht nicht mehr, aber wenn man
       einmal am Joint zieht, oder eine geringe Menge Haschisch besitzt, dann wird
       man bestraft.“
       
       Müller wird lauter. Artikel 2, Grundgesetz: „Jeder hat das Recht auf die
       freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer
       verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das
       Sittengesetz verstößt“, heißt es dort. „Die Behörden verfolgen aber
       regelmäßig Leute, nur weil sie mit einem anderen Genussmittel umgehen als
       mit Alkohol und Nikotin“, ärgert er sich.
       
       Im März 2021 entdeckte er Twitter. Nach zwanzig Minuten habe er 700
       Follower gehabt. Mittlerweile folgen ihm über 55.000 Menschen. „Ich habe
       gemerkt, dass man mit Twitter auch ein bisschen Politik machen kann“, sagt
       Müller. Kurz nach der Bundestagswahl startete er eine
       Social-Media-Kampagne. „Ich habe die Legalisierungsszene dazu aufgerufen,
       das Thema bei Twitter trenden zu lassen.“ Müller rief und der #weedmob
       folgte. Es erschienen unzählige Tweets mit Hashtags wie #richtermüller,
       #cannabislegalisierung und #LegalisierungJetzt. Zeitweise war die
       Legalisierung von Cannabis das bestimmende Thema in den sozialen Medien.
       
       Auch als die Ampelparteien den neuen Koalitionsvertrag präsentierten,
       setzte Müller einen Tweet ab. „Heute vor 7 Jahren ist mein Bruder infolge
       einer unsäglichen Drogenpolitik gestorben“, schrieb er. „Zuvor von einem
       Amtsrichter wegen 2 Gramm zu 7 Monate auf Bewährung verurteilt. Ich
       versprach ihm am Grab, weiter für die Legalisierung und Rehabilitierung zu
       kämpfen. Er wäre heute stolz.“
       
       Bei der Mary Jane, [3][Deutschlands größter Hanfmesse], herrscht Ende
       Oktober Goldgräberstimmung. Ganze 220 Unternehmen stellen in einer
       Veranstaltungshalle an der Spree jede Menge Produkte rund um den Anbau und
       Konsum von Cannabis aus. Ein breites Sortiment, für das sich laut
       Veranstalter 25.000 Besucher:innen angekündigt haben.
       
       Auch am Samstagnachmittag drängen sich die Cannabisfans durch die Gänge der
       Halle und inspizieren Rauchutensilien sowie CBD-Produkte und begutachten
       verschiedenes Equipment, das ihnen den Anbau leichter machen soll: Lampen,
       Lüftungen, Dünger, Bewässerungsanlagen – und sogenannte „Growboxen“;
       duschkabinenartige Gestelle mit Plastikhülle, in denen man unter
       LED-Beleuchtung, quasi „indoor“ Pflanzen züchten kann. Dass der Eigenanbau
       von Cannabis nach wie vor illegal ist, scheint hier kaum jemanden zu
       interessieren.
       
       „Wir haben vor der Bundestagswahl auf unserer Homepage ein Tool angeboten,
       mit dem man sich über die Postleitzahl die jeweiligen Wahlkreiskandidaten
       der im Bundestag vertretenen Parteien auswerfen lassen konnte“, sagt
       Hanfverband-Geschäftsführer Georg Wurth an seinem Stand. „Wir haben die
       Leute aufgefordert, ihren Wahlkreiskandidaten zu schreiben, dass sie von
       ihnen erwarten, dass Cannabis legalisiert wird, wenn sie in den Bundestag
       kommen.“ Dem Aufruf seien so viele Menschen gefolgt, dass der Hanfverband
       Beschwerden von einzelnen Kandidat:innen bekommen habe.
       
       Wie es zu einem Verbot von Cannabis kam, wurde in der aktuellen Debatte
       hingegen kaum thematisiert. Einer, der sich mit dieser Frage beschäftigt
       hat, ist Sebastian Scheerer. Der 71-jährige Jurist und Soziologe war
       Professor für Kriminologie an der Uni Hamburg. Mittlerweile ist er
       emeritiert. Scheerer gehört dem „Schildower Kreis“ an, einem
       Expert:innennetzwerk, das sich seit Jahrzehnten für die Legalisierung von
       Drogen engagiert.
       
       „Heute tut man so, als wäre die Prohibition alternativlos gewesen und das
       Beste, was man für die Volksgesundheit tun konnte, aber das ist
       erwiesenermaßen falsch“, sagt Scheerer am Telefon. „Gesundheitsargumente
       waren historisch meist nur Fassaden, hinter denen sich weniger edle
       Strukturen und Motive verbargen.“ Dann setzt er zu einem ausschweifenden
       Exkurs in die Geschichte an. Er berichtet von religiösen Kräften, sowohl in
       den arabischen Ländern als auch in den USA, die weder Alkohol- noch
       Cannabiskonsum gerne sahen. Und er berichtet von Kolonialherren, die den
       Konsum bei „Fremden“ zu unterbinden versuchten, obwohl oft dieselben
       Substanzen in der weißen Bevölkerung legal im Umlauf waren.
       
       Auch die Alkoholprohibition in den 1920er Jahren habe in Bezug auf die
       Stigmatisierung von Cannabis eine Rolle gespielt. Während die besser
       verdienenden US-Amerikaner:innen begannen, illegal Schnaps zu brennen,
       griff die ärmere Bevölkerung auf das von karibischen Zuckerrohrplantagen
       und aus Mexiko eingeführte Marihuana zurück. Die ärmere Bevölkerung, das
       waren mehrheitlich Schwarze, Latinos und andere Minderheiten. Sie wurden
       von da an am stärksten mit Cannabiskonsum assoziiert.
       
       Ein nach dem Ende der Prohibition 1933 neu geschaffenes Drogendezernat
       verstärkte den Effekt. Dessen Leiter, Harry J. Anslinger, ein
       US-amerikanischer Diplomat deutsch-schweizerischer Herkunft, begann eine
       großangelegte Kampagne gegen Cannabis. Er war es auch, der den Konsum mit
       Gewaltkriminalität und Wahnsinn verknüpfte. Cannabis wurde zum Killer-Weed.
       
       In den USA hat jedoch längst eine gegenläufige Bewegung eingesetzt. In mehr
       als 15 US-Bundesstaaten ist Cannabis inzwischen legal. Wer mindestens 21
       Jahre alt ist, darf es dort kaufen und konsumieren. Auch in Kanada ist der
       Konsum seit 2018 erlaubt. Bis zu 30 Gramm und vier Pflanzen darf ein
       Erwachsener dort besitzen. Ein Cannabisministerium regelt die Besteuerung
       und Anbaukontrolle.
       
       Während der letzten großen Debatte um die Freigabe von Cannabis in
       Deutschland im Jahr 2019 fertigte der wissenschaftliche Dienst des
       Bundestages einen Sachstand zu der Auswirkung von Legalisierung auf die
       Konsument:innenzahl in ausgewählten Ländern an. Die Autoren kamen zu
       dem Schluss, dass „Länder, die eine Liberalisierungspolitik verfolgen,
       einige der niedrigsten Prävalenzraten aufwiesen.“ Und selbst in Kanada, wo
       der Konsum drei Monate nach der Legalisierung um vier Prozent gestiegen
       war, habe die Freigabe kaum eine Auswirkung auf Jugendliche zwischen 15 und
       25 Jahren gehabt. Ein Großteil der Erstkonsument:innen waren dort
       Männer zwischen 45 und 64 Jahren.
       
       ## Unternehmen erkennen riesigen Absatzmarkt
       
       Auch einige deutsche Unternehmen haben die hiesige Debatte mit Interesse
       verfolgt. Denn eine Legalisierung, so viel steht fest, bringt sowohl der
       Wirtschaft als auch dem Staat eine Menge Geld. Mehr als 4,7 Milliarden Euro
       pro Jahr könnten dadurch für den Bundeshaushalt zusammenkommen, hat der
       Hanfverband ausgerechnet. Zusammengesetzt ist diese Summe aus zusätzlichen
       Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträgen sowie Einsparungen bei der
       Strafverfolgung. Darüber hinaus entsteht jetzt schon ein komplett neuer
       Industriezweig in Deutschland, der auch die Anbautechnik und verschiedenste
       künftige Darreichungsformen wie THC-haltige Getränke und Lebensmittel,
       sogenannte „Edibles“, einschließt.
       
       Ein Unternehmen, das schon vor vier Jahren entsprechende Weichen gestellt
       hat, ist die 115 Jahre alte Beleuchtungsfirma Osram. Einer, der dort
       Innovationen vorantreiben soll, ist Timo Bongartz, 36 Jahre alt, Gelfrisur,
       Gründer-Enthusiast. Vor sechs Jahren wurde Bongartz als Innovationsmanager
       eingestellt. Als solcher hat er bei Osram eine neue Sparte etabliert.
       „Horticulture“ heißt sie, Gartenbau auf Deutsch. „Eigentlich ging es
       zunächst ausschließlich um Lebensmittelpflanzen“, sagt Bongartz in der
       „World of Light“, einem firmeneigenen Museum im ersten Stock der
       Konzernzentrale. Doch dann habe man erkannt, dass sich mit Zubehör für den
       Cannabisanbau zeitnah und gewinnbringend expandieren lässt.
       
       „Cannabispflanzen brauchen sehr viel Licht“, sagt Bongartz, während er vor
       einem hüfthohen Podest mit beleuchteten Plastikpflanzen steht. Und weil
       klassische Lampen einen hohen Stromverbrauch haben und darüber hinaus viel
       Wärme erzeugen, habe sich beim Cannabisanbau früher als anderswo die
       LED-Technologie durchgesetzt. Also habe der Vorstand vor vier Jahren
       entschieden, ein Unternehmen aufzukaufen, das beim Thema LED-Beleuchtung in
       Gewächshäusern Expertise hat: Die Wahl fiel auf Fluence Bioengineering, ein
       Startup mit Sitz in Austin, Texas.
       
       „Als ich das Thema intern zum ersten Mal gepitcht habe, war das natürlich
       erst mal nichts, von dem man die Leute leicht überzeugen kann“, sagt
       Bongartz. Die Stereotype mussten aus den Köpfen: Kein Bob Marley, kein
       Hip-Hop, kein Flower-Power, stattdessen nannte er wissenschaftliche Fakten.
       Zum Beispiel, dass Cannabis nachweislich bei Epilepsie entspannt und die
       Folgen von Multipler Sklerose mindert. „Wenn man versteht, dass Cannabis
       medizinisches Potenzial hat, auch im sogenannten Recreational Bereich, wird
       schnell klar, dass man gleichbleibende Anbaubedingungen braucht, um die
       erforderlichen Standards zu erfüllen.“
       
       Inzwischen ist Bongartz zum General Manager für den Bereich Europa, Naher
       Osten und Afrika aufgestiegen. Cannabisproduzenten und Firmen, die in
       Gewächshäusern und Vertical Farms Gemüse unter LED-Beleuchtung anbauen,
       halten sich mittlerweile die Waage.
       
       Eine Legalisierung in Deutschland ist für die Osram-Tochterfirma vor allem
       als Absatzmarkt interessant. „Unsere Kunden sind Grower“, sagt Bongartz.
       Weil die Energiepreise in Deutschland hoch und Flächen rar seien, sei der
       Anbau anderswo profitabler. Auch hätten andere Länder aufgrund von
       Lockerungen und weniger restriktiven Bestimmungen einen Wissensvorsprung
       aufgebaut. Portugal, zählt er auf. „Dort herrscht ein ähnliches Klima wie
       in Kalifornien.“ Die Schweiz, Israel und Südafrika, aber auch Holland und
       Dänemark, die seit Jahrzehnten Blumen in Gewächshäusern ziehen, seien für
       sein Unternehmen bedeutsam. Griechenland und Nordmazedonien kämen derzeit
       als neue Länder dazu.
       
       „Wenn der Bedarf an Cannabis steigt, werden auch mehr LED-Leuchten
       gebraucht. Und wer weiß“, sagt der Manager, „wenn sich der Trend fortsetzt,
       dass Konsument:innen verstärkt regionale Produkte nachfragen, um den
       ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, dann ist irgendwann vielleicht auch
       Brandenburger Kush gefragt.“
       
       Die Frage, wer die „lizenzierten Geschäfte“ sind, die laut
       Koalitionsvertrag künftig Cannabis verkaufen dürfen, ist bislang nicht
       geklärt. Die Apotheken haben bereits ihr vorsichtiges Einverständnis
       signalisiert.
       
       „Wir reißen uns nicht darum, künftig in unseren Apotheken Cannabis zu
       verkaufen“, sagte die Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher
       Apothekerverbände (ABDA) Gabriele Regina Overwiening dem Redaktionsnetzwerk
       Deutschland. „Im Fall einer Legalisierung sind wir aber davon überzeugt,
       dass es nur die Apotheken ein Höchstmaß an Sicherheit für die Konsumenten
       gewährleisten können.“ Experten wie Jugendrichter Müller hoffen eher auf
       lizenzierte Fachgeschäfte mit geschultem Personal, das fachgerecht zu
       verschiedenen Sorten und Wirkungsweisen beraten kann.
       
       Müller hat noch drei Wünsche. Erstens: „Macht schnell.“ Dass Cannabis aus
       dem Betäubungsmittelgesetz genommen und damit entkriminalisiert werde,
       wolle er in den ersten hundert Tagen der Regierung sehen. Zweitens: „Die
       Abgabe von Cannabis von Erwachsenen über 21 Jahren an Kinder und
       Jugendliche soll weiterhin unter Strafe stehen – aber nicht so rigoros, wie
       das jetzt der Fall ist.“ Und drittens: „Die Rehabilitierung von Menschen,
       die durch deutsche Richter und die strafrechtliche Verfolgung kaputtgemacht
       worden sind.“ Dass die Legalisierung im Koalitionsvertrag stehe, sei ein
       Erfolg. „Aber das muss alles noch weitergehen.“
       
       27 Nov 2021
       
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