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       # taz.de -- Ampel und SPD-FDP-Koalition: Links-liberal, zweiter Akt
       
       > Das Ampelbündnis sieht sich in der Tradition der sozial-liberalen
       > Koalition der frühen 1970er Jahre. Schon jetzt sieht man deutliche
       > Parallelen.
       
       Mit dem Motto „[1][Mehr Fortschritt wagen]“ stellt sich die neue
       Ampelregierung ausdrücklich in die Tradition der sozial-liberalen
       Koalition, deren erste Regierungserklärung „[2][mehr Demokratie wagen]“ als
       Ziel benannte. Im „Zweieinhalbparteiensystem“ des Jahres 1969 beruhte die
       Koalitionsbildung auf Entscheidungen der Parteien, von denen jeweils zwei
       zusammen über eine Bundestagsmehrheit verfügten.
       
       Zuvor hatten im Bund meist CDU/CSU und FDP, zuletzt aber CDU/CSU und SPD
       koaliert, SPD und FDP nur in den Ländern. Die Regierungsbildung überraschte
       manche; Kanzler Kurt Georg Kiesinger wurde erst im Laufe des Wahlabends der
       Machtverlust seiner CDU/CSU bewusst, die mit 46,1 % klar vor der SPD (42,7
       %) lag.
       
       Zwei Gründe bewogen [3][SPD und FDP 1969] zum gemeinsamen Bündnis: erstens
       das Erproben einer strategischen Machtoption, die beiden Parteien größeren
       Einfluss als in einer Juniorpartnerschaft mit der Union garantierten. Und
       zweitens der gemeinsame Wunsch zur Verwirklichung allgemein als dringend
       notwendig empfundener Reformen in der Gesellschafts- und Ostpolitik.
       
       Die SPD stellte nun erstmals den Kanzler. Die FDP erhielt trotz ihres
       Stimmenanteils von nur 5,8 % mit dem Innen- und dem Außenministerium zwei
       Schlüsselressorts. 1972 ging zusätzlich das Wirtschaftsministerium an die
       Partei. Damit begann eine bis heute fortgeführte Tradition, dem
       Juniorpartner überdurchschnittlichen Einfluss zuzubilligen, um ihn
       dauerhaft an die Koalition zu binden, vor allem dann, wenn er über andere
       Optionen verfügt und/oder auf interne Widerstände stößt, wie zuletzt die
       SPD bei der Groko.
       
       ## Gesellschaftspolitischer Richtungswechsel
       
       Dies gleicht auch die potenziell existenzbedrohenden Nachteile für das
       Verlassen des politischen Lagers aus. So verlor die FDP bei ihrem
       zweimaligen Wechsel 1969/82 jeweils rund 30 % der Anhänger. Bei der
       Koalitionsbildung geht es also nicht nur darum, dass programmatisch
       homogene Partner gemeinsame Inhalte umsetzen wollen (policy-seeking),
       sondern auch machtstrategische Erwägungen (office-seeking) spielen eine
       Rolle.
       
       Um die Distanz der Partner von 1969 zu ermessen, muss man wissen, dass die
       FDP damals auch „Nationalliberale“ – bis hin zu ehemaligen Nazis – in ihren
       Reihen hatte und noch 1957 allen Ernstes zum Parteitag in die
       „Reichshauptstadt Berlin“ lud. Das zweite Motiv war der Wunsch nach
       Reformen. Der Bundesrepublik ging es wirtschaftlich blendend, aber
       gesellschaftlich herrschte Stillstand.
       
       Noch 1968, als die DDR den § 175 abschaffte, wurden jährlich über 2.000
       männliche Homosexuelle verurteilt, Frauen benötigten, um zu arbeiten, die
       Zustimmung des Ehemanns. Die sozial-liberale Koalition arbeitete dann,
       teils vom Verfassungsgericht ausgebremst, ein gesellschaftspolitisches
       Thema nach dem anderen ab:
       
       Senkung des Wahl- und Volljährigkeitsalters auf 18 Jahre (1970/72),
       Gleichstellung der Geschlechter im Ehe- und Familienrecht (1977),
       Scheidungsrechtsreform im Sinne des Zerrüttungsprinzips (1976), Streichung
       der Gewissensprüfung bei Kriegsdienstverweigerung (1977), Abschaffung des §
       175 (1973), Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen (1974), Wegfall von
       „Kuppelei“ (1970) und Pornografieverbot (1974) im Zuge der „Großen
       Strafrechtsreform“.
       
       Als dringend reformbedürftig wurde auch die Ost- und Deutschlandpolitik
       empfunden. Die Leugnung der Realitäten schränkte vor allem die Freiheit im
       Berlin-Verkehr merklich ein.
       
       ## Opfer ihres eigenen Erfolgs
       
       Die sozial-liberale Koalition setzte gegen den Widerstand von CDU/CSU und
       Vertriebenen, aber mit Rückhalt in der Bevölkerung, das von Egon Bahr schon
       1963 skizzierte Konzept einer neuen Ostpolitik um und fand, ohne
       völkerrechtliche Anerkennung der DDR, aber durch Verzicht auf gewaltsame
       Grenzänderungen, in Verträgen mit den östlichen Nachbarstaaten einen Modus
       Vivendi mit spürbaren Erleichterungen. Paradoxerweise wurde die
       sozial-liberale Koalition dadurch zum Opfer ihres eigenen Erfolgs.
       
       Das Bündnis hatte seinen Zweck weitgehend erfüllt, der „Vorrat an
       Gemeinsamkeiten“ war aufgebraucht. Das ökonomische Klima verschlechterte
       sich, die Dominanz des marktliberalen Paradigmas begann. Die FDP, die 1971
       noch „Reform des Kapitalismus“ gefordert hatte, rief nach Deregulierung,
       Privatisierung, Flexibilisierung und Steuersenkung, während die SPD weiter
       auf Sozialstaatsexpansion und Nachfragesteuerung setzte.
       
       Zusammengehalten wurde die Koalition zuletzt vor allem durch einen
       gemeinsamen Gegner: Franz Josef Strauß, 1980 Unionskanzlerkandidat. Auch
       wenn sich SPD und FDP nicht mehr viel zu sagen hatten, in ihrer Ablehnung
       des konservativen Bayern, der Nähe zu diktatorischen Regimen wie Chile und
       Südafrika zeigte, waren sie sich einig. Als Strauß geschlagen war und die
       Grünen künftige sozial-liberale Mehrheiten unwahrscheinlich machten,
       vollzog die FDP 1982 dann den erneuten Wechsel zur CDU/CSU.
       
       Das nun gewählte Etikett „Fortschritt“ liegt nahe für eine Kooperation von
       zwei eher linken mit einer liberalen Partei. Verdankt auch die
       Ampelkoalition, von der aktuellen Schwäche der Union abgesehen, ihr
       Entstehen machtstrategischen Erwägungen und der Notwendigkeit
       gesellschaftspolitischer Reformen? Für SPD und FDP gilt heute wie damals,
       dass das gemeinsame Bündnis beiden Parteien mehr Einfluss verschafft als
       andere Optionen.
       
       ## Kitt durch den politischen Feind
       
       Anstatt der ungeliebten Rolle als Juniorpartner verfügt die SPD nun über
       das Kanzleramt samt Richtlinienkompetenz und großen europapolitischen
       Spielräumen. Die FDP erhält als kleinster Partner mit Finanz-, Justiz- und
       Verkehrsministerium gleich drei bedeutende, mit weitreichenden
       Steuerungskompetenzen und Ressourcen ausgestattete Ressorts. Die Partei
       erzielte zudem beachtliche inhaltliche Zugeständnisse:
       
       Die Ampelkoalition verzichtet – entgegen den Plänen von SPD und Grünen –
       auf Steuererhöhungen und hält an der [4][Schuldenbremse] fest. Es wird
       keine „Bürgerversicherung“ geben, kein Tempolimit, keinen Zulassungsstopp
       für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor und keine Regulierung der
       Provisionsberatung. Hingegen betont der Koalitionsvertrag mit der
       verstärkten Förderung privater Investitionen und der beschleunigten
       Digitalisierung zwei FDP-Kernanliegen.
       
       Dies überrascht nicht, hatte doch die FDP als Angehörige des anderen Lagers
       (wie 1969) den weitesten Weg zum Ampelbündnis zurückzulegen und benötigt
       zur Rechtfertigung gegenüber der eigenen Anhängerschaft den Verweis auf
       deutliche Erfolge. So hatte die FDP 2005 erklärt, man wolle das rot-grüne
       „Elend nicht verlängern“, und noch im Sommer räumte [5][Parteichef
       Christian Lindner] ein, ihm fehle „die Fantasie, welches Angebot [SPD und
       Grüne] der FDP machen könnten.“
       
       Diesen überproportionalen Einfluss hätten, wäre es zu einem Jamaika-Bündnis
       gekommen, die Grünen einfordern können. In der Ampel scheinen sie gemessen
       am Wahlergebnis angesichts mit fünf Ressorts – darunter weder Finanzen noch
       Verkehr, aber die für die Partei wichtigen Bereiche Umwelt,
       Wirtschaft/Klima und Agrar, außerdem das Außenamt – eher angemessen als
       überproportional vertreten.
       
       ## Belohnung für den Richtungswechsel der FDP
       
       Die auf ökonomischem Gebiet heterogenen Ampelpartner präsentieren vor dem
       Hintergrund einer guten Wirtschaftslage nun wie 1969 eine umfassende
       gesellschaftliche Reformagenda:
       
       [6][Hanf-Freigabe], Streichung des [7][§ 219a StGB], [8][gemeinsames
       Sorgerecht zweier Mütter], Selbstbestimmungsgesetz für Trans-Personen,
       „Spurwechsel“ für Asylsuchende, erleichterte Einbürgerung, Familiennachzug,
       Ende der Ankerzentren, Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen,
       Verzicht auf anlasslose Vorratsdatenspeicherung, Kennzeichnungspflicht für
       Polizeibeamte, unabhängige*r Polizeibeauftragte*r, Wahlalter 16 Jahre,
       vorausgesetzt, die Unionsparteien spielen mit.
       
       Dieses Reformpaket steht ohne Zweifel für „mehr Fortschritt“, ist mit dem
       sozial-liberalen Aufbruch der 1970er jedoch nur bedingt vergleichbar: Ein
       der Ostpolitik entsprechendes außenpolitisches Reformprojekt ist nicht in
       Sicht. Hier drohen im Gegenteil eher Konflikte. Manches fehlt –
       Paritätsgesetz, Reform des § 218, und vor allem ist der allgemeine Unmut
       über die Gesellschaftspolitik weniger stark: Die „Ehe für alle“ gibt es
       längst, die Wehrpflicht ist Geschichte.
       
       Reformpolitik erscheint heute somit stärker als im Nachhinein vorgebrachte
       Rechtfertigung denn als auslösendes Moment für die Bildung der Koalition.
       Wiederholt sich Geschichte? Die Ampelpartner sind in jedem Fall gut
       beraten, einen Blick ins Geschichtsbuch zu werfen. Denn die
       Wahrscheinlichkeit ist nicht so gering, dass nach Abarbeiten der
       gesellschaftspolitischen Reformen die ökonomischen Unterschiede zwischen
       den Ampelpartnern deutlicher hervortreten, die Koalition aber in vier
       Jahren auf einen CSU-Kanzlerkandidaten trifft.
       
       Söder ist nicht Strauß. Doch die unmittelbar einsetzende CDU/CSU-Kritik an
       der „links-gelben“ Koalition als angebliches Sicherheitsrisiko erinnert an
       die 1970er Jahre. Eine solche Polarisierung hat das Potenzial, die
       Ampelkoalition zu einen und mit einer Perspektive über das Jahr 2025
       hinaus zu versehen.
       
       4 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Die-neue-Bundesregierung/!vn5818586
   DIR [2] https://willy-brandt.de/willy-brandt/publikationen/wir-wollen-mehr-demokratie-wagen/
   DIR [3] https://www.grin.com/document/99263#:~:text=Die%20Sozialliberale%20Koalition:%20So%20entstand%201969%20die%20erste,als%20Nachfolger%20des%20CDU%20-%20Politikers%20Heinrich%20L%C3%BCbke.
   DIR [4] /Finanzierung-der-Ampel-Plaene/!5806125
   DIR [5] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/bundestagswahl/id_90630156/fdp-chef-christian-lindner-kann-sich-keine-ampelkoalition-vorstellen.html
   DIR [6] /Legalisierung-von-Cannabis/!5815534
   DIR [7] /Schwerpunkt-Paragraf-219a/!t5480560
   DIR [8] /Neues-Familienbild-der-Ampel/!5814765
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Anan
       
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