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       # taz.de -- Präsidentschaftswahl in Chile: Links gegen ganz rechts
       
       > Bei der Präsidentschaftswahl in Chile hat der Rechtsextreme José Antonio
       > Kast die meisten Stimmen erhalten. Stichwahl ist im Dezember.
       
   IMG Bild: Sieger der ersten Runde in Chile: der rechtsextreme José Antonio Kast und seine Frau am Wahlabend
       
       Santiago taz | „Wir werden Chile den Frieden, die Ordnung und die Freiheit
       zurückgeben“ sagt José Antonio Kast bei seiner Rede, als klar ist, dass er
       mit rund 28 Prozent der Stimmen als bestplatzierter aus der ersten Runde
       der Präsidentschaftswahlen in Chile hervorgegangen ist.
       
       Zweiter wurde der linke ehemalige Studierendenführer Gabriel Boric mit rund
       26 Prozent, dritter mit 13 Prozent der rechtsliberale Franco Parisi, der in
       den USA lebt und im Wahlkampf kein einziges Mal nach Chile gereist war,
       sondern ausschließlich im Internet für sich geworben hatte. Am 19. Dezember
       kommt es damit zur Stichwahl zwischen Kast und Boric.
       
       Kast bedankt sich bei Gott und bei seiner Familie auf einer Bühne in Las
       Condes in der Hauptstadt Santiago, einer der Stadtgemeinden mit dem
       höchsten Pro-Kopf-Einkommen des Landes. Es ist eine der fünf
       Stadtgemeinden, in der beim Referendum im Oktober 2020 das „Rechazo“, die
       Ablehnung einer neuen Verfassung, gesiegt hat. Insgesamt hatten 80 Prozent
       für eine neue Verfassung gestimmt, um die alte aus der Pinochet-Diktatur zu
       ersetzen.
       
       Kast steht für die 20 Prozent, die den Status Quo verteidigen und
       Veränderungen verhindern wollen. Trotzdem erhielt er bei den
       Präsidentschaftswahlen am Sonntag knapp 28 Prozent der Stimmen und damit
       mehr als Gabriel Boric, der ehemalige Studierendenführer und Kandidat der
       linken Koalition „Apruebo Dignidad“, der auf etwa 26 Prozent kam. Wie
       konnte es dazu kommen?
       
       ## Kast nutzt die Angst und Unsicherheit der Menschen aus
       
       Der 55-jährige José Antonio Kast fährt einen klar frauen-, trans- und
       fremdenfeindlichen Kurs. Er will das Frauenministerium abschaffen, lehnt
       [1][Abtreibung] und gleichgeschlechtliche Ehe ab, will unverheiratete
       Frauen von staatlichen Hilfen ausschließen und einen Graben zur Abwehr von
       Migrant*innen bauen. Sein Vater war deutscher Wehrmachtsoffizier, sein
       Bruder Minister unter Diktator Augusto Pinochet, er selbst Unterstützer der
       Militärdiktatur, die ihm zufolge „Chiles wirtschaftliche Entwicklung“
       ermöglicht habe.
       
       Kast nutzt die Angst und Unsicherheit der Menschen aus, die durch die
       Pandemie zugenommen hat. In den Armenvierteln Chiles ist der Staat
       abwesend, es regieren Drogenbosse und kriminelle Banden. Kast verspricht
       Sicherheit und Ordnung. Er verteidigt in seiner Kampagne die „Freiheit“
       gegenüber einer vermeintlichen „kommunistischen Diktatur“, die Chile in
       Venezuela oder Kuba verwandeln würde. „Gabriel Boric steht für Chaos,
       Hunger und Gewalt“, sagte Kast bei einer Rede vor den Wahlen.
       
       Der 35-jährige Gabriel Boric plant aber keinesfalls die Revolution, sondern
       eher gemäßigte Reformen. Er setzt sich für Umweltschutz, Frauenrechte und
       Dezentralisierung ein und will die Forderungen der Protestbewegung
       umsetzen: Höhere Löhne, würdevolle Renten, ein gerechtes Bildungs- und
       Gesundheitssystem, mehr soziale Gerechtigkeit. „Wir müssen diejenigen
       erreichen, die nicht für uns gewählt haben, wir müssen ihnen zuhören und
       sie verstehen“, sagt er bei seiner Rede nach den Wahlen am Sonntag.
       
       Boric ist zwar ehemaliger Studierendenführer, aber er hat es nicht
       geschafft, die Millionen von Menschen zu überzeugen, die 2019 und 2020 auf
       den Straßen Chiles protestierten. Er war es, der am 15. November 2019 im
       Alleingang den „Vertrag für den Frieden und eine neue Verfassung“ mit der
       Regierung von Präsident Sebastian Piñera unterschrieb. Bis heute
       kritisieren in viele dafür, hinter verschlossenen Türen und unter
       Ausschluss der Protestbewegung Piñera so den Fortbestand seiner Regierung
       gesichert zu haben.
       
       ## Rechter Präsident und linker Verfassungsprozess?
       
       Der hohe Stimmenanteil der Rechten bei den Präsidentschaftswahlen war für
       viele überraschend. Noch im Mai dieses Jahrs hatte eine überwältigende
       Mehrheit bei den Wahlen zur [2][verfassunggebenden Versammlung] für linke
       und parteiunabhängige Kandidat*innen gestimmt.
       
       Dort sitzen Vertreter*innen der [3][Protestbewegung], der sozialen
       Organisationen, der feministischen und der Umweltbewegung sowie der
       indigenen Völker. Sie setzen sich mehrheitlich für soziale Grundrechte, für
       den Schutz der Natur, für die Anerkennung der Rechte der Indigenen und für
       ein anderes Wirtschaftsmodell ein. Sie wollen den Sozialstaat und die
       öffentlichen Institutionen in der neuen Verfassung stärken.
       
       Die zukünftige Regierung wird die Arbeit des Verfassungskonvents
       beeinflussen. José Antonio Kast ist Gegner der neuen Verfassung. Er will
       den Staat noch weiter verkleinern und den [4][neoliberalen
       Privatisierungskurs] weiterführen. Gabriel Boric hingegen ist Befürworter
       einer neuen Verfassung, die soziale und ökologische Rechte garantiert, und
       Gegner des Neoliberalismus.
       
       Die Veränderungen, die der verfassunggebende Prozess anstößt, werden
       vermutlich erst in Jahren zu spüren sein. Viele Menschen sind verunsichert
       und haben das Vertrauen in die Politik verloren. Die Wahlbeteiligung bei
       den Präsidentschaftswahlen lag bei etwa 44 Prozent, noch niedriger als bei
       den Wahlen 2017. Bei der Stichwahl am 19. Dezember wird sich entscheiden,
       ob der neue Präsident den Wandel unterstützt oder gegen ihn ankämpft.
       
       22 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aktionstag-fuer-das-Recht-auf-Abtreibung/!5804833
   DIR [2] /Neues-Grundgesetz-in-Chile/!5789863
   DIR [3] /Erfolg-der-Massenproteste-in-Chile/!5642323
   DIR [4] /Massenproteste-in-Chile/!5656391
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophia Boddenberg
       
       ## TAGS
       
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