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       # taz.de -- Postenrochade in Österreich: Endlich wieder geschachert
       
       > Österreich hat mit Karl Nehammer einen neuen Kanzler. Die
       > Kabinettsbesetzung zeigt: Die ÖVP-Landeshauptleute haben wieder das
       > Kommando.
       
   IMG Bild: Personalrochade: Die neuen Minister für Bildung, für Inneres und für Finanzen (von links)
       
       Wien taz | Alexander Van der Bellen zeigt sich amüsiert über Karikaturen,
       die die berühmte Tapetentür, die zu seinem Büro führt, als Drehtür
       darstellen. Kein Bundespräsident vor ihm hat auch nur annähernd so viele
       Regierungsmitglieder vereidigen müssen. Oder angeloben, wie man in
       Österreich sagt. Am Montag war es wieder so weit: Alexander Schallenberg
       von der konservativen Volkspartei (ÖVP), [1][vor kaum zwei Monaten als
       Bundeskanzler angelobt], ließ sich seines Amtes entheben und bereits zum
       dritten Mal als Außenminister vereidigen. Auslöser war [2][der Rückzug von
       Ex-Kanzler Sebastian Kurz] aus der Politik im Zuge von
       Korruptionsvorwürfen.
       
       Als Kanzler folgt [3][Karl Nehammer], bisher als Innenminister für Polizei,
       Abschiebungen und Überwachung der Corona-Einschränkungen zuständig. Er hat
       in seiner Antrittsrede als designierter Parteichef am vergangenen Freitag
       die Pandemie als größte Herausforderung identifiziert. Schonzeit wird es
       nicht geben: Schon am Mittwoch steht die Entscheidung an, ob der
       gegenwärtige Lockdown beendet oder doch, zumindest teilweise, fortgesetzt
       wird.
       
       Die Pandemiebekämpfung war auch der einzige inhaltliche Punkt, den Van der
       Bellen in seiner kurzen Rede vor der Vereidigungszeremonie ansprach:
       „Leider wissen wir nicht, womit uns das Virus noch überraschen wird.“ Und
       es wäre nicht Van der Bellen, wenn er die Gelegenheit nicht zu einer
       subtilen Rüge an die Adresse der Bundesregierung, speziell der ÖVP, genützt
       hätte: „Wir sollten keine falschen Erwartungen wecken und nichts
       versprechen, was sich später als nicht einhaltbar herausstellen wird.“ Eine
       klare Anspielung auf den Schwenk bei der Impfpflicht und auf die
       Schönwetterpolitik von Sebastian Kurz, der bereits das Ende der Pandemie
       für Geimpfte ausgerufen hatte.
       
       Nehammer muss jetzt die durch den überraschenden Abgang von Sebastian Kurz
       erschütterte ÖVP zur Ruhe bringen und die seit 2020 bestehende Koalition
       mit den Grünen wieder in ruhiges Fahrwasser steuern. Jüngste Umfragen
       alarmierten die Spitzen der Politik mit dem Befund, dass nur mehr 25
       Prozent der Bevölkerung Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierenden
       hätten. Mehrere Medien berichteten, Nehammer habe auch den Auftrag, die
       Grünen, die in jüngster Zeit zu selbstbewusst aufgetreten seien, wieder
       „einzufangen“.
       
       ## „Mann fürs Grobe“
       
       Dass Nehammers harte Linie gegenüber Asylbewerbern fortgesetzt wird, dürfte
       ihm der neue Innenminister Gerhard Karner garantieren. Er hat als
       Pressesprecher von Ernst Strasser vor 20 Jahren das damals rote
       Innenministerium binnen kürzester Zeit auf Schwarz umgefärbt, also durch
       Umstrukturierungen SPÖ-nahe Spitzenbeamte ausgebootet und loyale
       Parteigänger installiert. Karner, der zuletzt als zweiter Landtagspräsident
       in Niederösterreich waltete, gilt als „Mann fürs Grobe“. Seine
       Presseaussendungen, in denen er die Opposition wüst attackiert, sind
       Legende.
       
       In den sozialen Medien unterstellt man ihm auch ein ambivalentes Verhältnis
       zur Demokratie – regiert er doch als Bürgermeister über die Heimatgemeinde
       des austrofaschistischen Diktators Engelbert Dollfuß, dem dort eine
       Gedenkstätte gewidmet ist. Sie setzt sich äußerst unkritisch mit dem
       Bundeskanzler der Ersten Republik auseinander, der 1933 das Parlament
       ausschaltete, die Sozialdemokratie verfolgen ließ und 1934 von den Nazis
       ermordet wurde.
       
       Karl Nehammer hat sich bei seiner Personalauswahl erkennbar die Hand von
       den Landeshauptleuten führen lassen. Anders als Sebastian Kurz, der erkannt
       hatte, dass man die alte Tante ÖVP nur reformieren kann, wenn man die
       traditionellen Strukturen aufbricht: Kurz ließ sich 2017 bei seiner Kür zum
       Parteichef freie Hand geben, Posten mit Vertrauensleuten zu besetzen, ohne
       Rücksicht auf die Befindlichkeiten von selbstherrlichen Landeshauptleuten
       oder die tradierten Ansprüche von Bünden.
       
       Die ÖVP ist historisch gesehen eine Klammer für konservative
       Standesvertretungen, wie Bauernbund, Wirtschaftsbund und Arbeiter- und
       Angestelltenbund (ÖAAB). Zunehmende Bedeutung bekamen angesichts der
       alternden Anhängerschaft der Seniorenbund und zuletzt die Junge Volkspartei
       (JVP), das politische Sprungbrett für Sebastian Kurz.
       
       Die alten Strukturen waren nie verschwunden
       
       Die Besetzung von Posten war früher immer ein Balanceakt zwischen den
       Interessen von Bünden und Ländern. In sechs von neun Bundesländern stellt
       die ÖVP die Landeshauptleute. Niederösterreich ist das letzte Land, wo die
       Konservativen mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet sind und
       entsprechend selbstherrlich regieren.
       
       Dass die alten Strukturen nie verschwunden waren, zeigte sich letzte Woche.
       Kaum war Kurz entmachtet, übernahmen die Landeshauptleute wieder das
       Kommando. Bildungs- und Wissenschaftsminister Heinz Faßmann, ein in
       Düsseldorf geborener Zuwanderer, musste über Nacht seinen Posten räumen,
       weil der steirische Landeshauptmann sein Bundesland in der Regierung
       vertreten wissen wollte. „Ich bin weder bündisch verankert noch einem
       Bundesland zuzuordnen“, nannte Faßmann in entwaffnender Offenheit den Grund
       für seine Abberufung.
       
       Ihm folgt jetzt der 56-jährige Rektor der Universität Graz Martin Polaschek
       – vor allem deswegen, weil er Steirer ist. Der Jurist und Rechtshistoriker
       gilt als bunter Hund der akademischen Szene. Als vor zwölf Jahren die
       Studierenden in der Uni-brennt-Bewegung unter anderem gegen
       Zugangsbeschränkungen an den Unis rebellierten, kam er fast allen
       Forderungen der Revoluzzer entgegen. Sein besonderes Interesse gilt der
       NS-Justiz und deren Aufarbeitung durch die Nachkriegsjustiz.
       
       Die 26-jährige Claudia Plakolm, derer Ernennung sich Oberösterreichs
       Landeshauptmann Thomas Stelzer rühmte, wechselt aus dem Nationalrat in ein
       neu geschaffenes Staatssekretariat für Jugend, das im Bundeskanzleramt
       angesiedelt ist. Einen Kevin Kühnert der ÖVP darf man dort nicht erwarten.
       Die Vorsitzende der Jungen ÖVP trägt ihr katholisch-konservatives Weltbild
       so demonstrativ vor sich her, dass es schon wehtut.
       
       Das bisherige Staatssekretariat im Klimaministerium wird aufgelöst. Dessen
       Titular, der 49-jährige Jurist Magnus Brunner aus Vorarlberg, ist jetzt
       Finanzminister. In dieser Funktion dürfte Brunner die grüne Klimaministerin
       Leonore Gewessler leichter in die Schranken weisen können, als bisher in
       deren Ministerium.
       
       6 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Leonhard
       
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