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       # taz.de -- Netflix-Serie von Comiczeichner: Wenn man das Sofa teilen muss
       
       > Der italienische Comicstar Zerocalcare hat eine autobiografische Serie
       > gezeichnet. Ein Leben abseits von Chichi mit sozialer Dauerkrise.
       
   IMG Bild: Filmfestival in Rom: Zerocalcare vor den Figuren von „An der perforierten Linie abreißen“
       
       Der italienische Comiczeichner Zerocalcare ist in Deutschland durch seine
       [1][Graphic Novel „Kobane Calling“ bekannt geworden.] Als Teil einer
       Soligruppe bereiste er Ende 2014 und noch einmal im Juli 2015 das
       türkisch-irakisch-syrische Grenzgebiet und die kurdisch dominierte Republik
       von Rojava.
       
       Dass sein Interesse und seine Solidarität seit dieser [2][gezeichneten
       Reportage] nicht nachgelassen haben, wird auch in der sechsteiligen Serie
       [3][„An der perforierten Linie abreißen“ (Originaltitel: „Strappare lungo i
       bordi“)] deutlich, die seit dem 17. November bei Netflix zu sehen ist: An
       der Wohnungstür des Protagonisten Zero, eines in Rom lebenden Zeichners,
       den man mit dem Autor identifizieren darf, prangt der Stern der kurdischen
       Volksverteidigungseinheiten (YPG). Die türkische Zeitung Sabah und andere
       nationalistische Medien in der Türkei erregten sich über das
       „terroristische“ Symbol.
       
       Der 1983 geborene Zerocalcare, dessen Animationsserie in Italien sogar den
       umstrittenen Megaerfolg „Squid Game“ vom ersten Platz der meist gesehenen
       Netflix-Produkte verdrängt hat, ist aber auch in seiner Heimat kein
       anschmiegsamer Künstler und Aktivist. Am vergangenen Mittwoch etwa besuchte
       Michele Rech, Zerocalcares bürgerlicher Name, den 66-jährigen Emilio Scalzo
       im norditalienischen Val Susa. Scalzo, der sich seit Jahren gegen den
       [4][Bau der Hochgeschwindigkeitsbahnlinie durch das Susa-Tal engagiert
       (NO-TAV-Bewegung)], wird nach Frankreich ausgeliefert, weil er bei einer
       Demo für Flüchtlinge einen Gendarmen geschlagen haben soll.
       
       Und es gibt noch einen anderen Streit um Rech, der teils in Frankreich
       aufwuchs und seit Langem im römischen Vorstadtviertel Rebibbia lebt. Eben
       dort spielt ein großer Teil der Handlung von „Strappare lungo i bordi“,
       erzählt vom Autor selbst im römischen Dialekt („romanesco“), der, so die
       Klagen und linguistischen Diskussionen, für Norditaliener kaum verständlich
       sei (wobei schon umstritten ist, ob romanesco überhaupt ein Dialekt ist
       oder nicht eher ein subproletarischer Soziolekt). Dahinter steht aber wohl
       mehr der Neid des reichen Nordens, der gegen die kulturelle Dominanz und
       Lässigkeit des Hauptstadtjargons nicht ankommt.
       
       ## Die Kunst im Banalen
       
       Zerocalcares Coming-of-Age-Serie handelt von Leben und Aufwachsen in einem
       Rom ohne Chichi und Altertümer, aber mit sozialer Dauerkrise, amourösen
       Verwirrungen, Punkkonzerten, existenziellen Krisen und Onlinepoker als
       Lebensmodell. Das Erzählprinzip folgt dabei der US-Redensart „It’s like“:
       An sich banale Erlebnisse oder Wahrnehmungen werden mit
       kreativ-assoziativer Hochgeschwindigkeit und zeichnerischer Bravour ins bis
       zur Erschöpfung Absurde gesteigert, dann fällt alles wieder ab in die
       Ernüchterung eines normal-banalen Alltags.
       
       Das nervt manchmal auf pubertäre Art, wird aber schon sehr groß, wenn
       Zerocalcare etwa zeichnend und dauerlabernd von der Inbesitznahme seiner
       künstlerisch-verwahrlosten Wohnung durch die sich
       aggressiv-verselbständigenden Objekte erzählt: Das Sofa ist verloren,
       dieses Zimmer kann man nicht betreten, der Küchentisch gehört mir nicht
       mehr etc.
       
       Ob man sein Leben entlang der vorgegebenen gestrichelten Linien leben soll
       oder von ihnen abweichen muss, ist eine Frage, die sich im
       krisengeschüttelten Italien des letzten Jahrzehnts verschärft gestellt hat.
       In Deutschland so gut wie unbekannte Autoren wie Paolo Nori, [5][aber auch
       die ebenfalls empfehlenswerte und bemerkenswert ähnliche Netflix-Serie
       „Zero“ – die erste mit einem Afroitaliener als Protagonisten] – haben das
       zu ihrem Thema gemacht. Zerocalcare zeichnet ein Bild einer Generation, die
       schlechte Chancen hat und versucht, darüber nicht gemein zu werden. Eine
       deutsche Synchronisation gibt es nicht – aber ein sehr schlaues Gürteltier.
       
       6 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Reportage-Comic-ueber-Syrien/!5474169
   DIR [2] https://www.avant-verlag.de/comics/kobane-calling/
   DIR [3] https://www.netflix.com/de/title/81304528
   DIR [4] /Protest-gegen-Schnellzugstrecke/!5243389
   DIR [5] https://www.esquire.de/entertainment/streaming-tv/zero-italienische-netflix-serie
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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