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       # taz.de -- Weihnachtsbeleuchtung im Ex-Brennpunkt: Melancholisches Jahresendgefunkel
       
       > Zwischen diesen Corona-Jahren wird die Kolumnistin sentimental, aber
       > irgendwer leuchtet ihr schon heim – auch wenn da kein Altbau ist.
       
   IMG Bild: Wenn bei Zypern die rote Kugel im Meer versinkt: Wie lang leuchtet das Zeug jetzt eigentlich noch?
       
       Bin gespannt, wie lange sie hängenbleibt, die Weihnachtsbeleuchtung. Die
       Zeit hat gerade einen [1][entzückend akademischen Text über die
       „LED-isierung der Welt“ als „Leistungsschau der Leuchtmittelindustrie“]
       veröffentlicht und damit den Trend ja eigentlich beerdigt, aber hier in
       meiner neuen Hood eskaliert das Wettrüsten um die beleuchtetsten Balkone
       und Wohnzimmerfenster noch munter vor sich hin. Ist ja auch nicht Hamburch.
       
       Ich habe natürlich [2][ein kleines kulturelles Problem mit allem, was
       kalt-weiß oder gar bunt leuchtet und schlimmstenfalls blinkt], aber ich
       gewöhne mir das gerade ab. Nur weil ich als Kind die Kerzenflammen am
       Weihnachtsbaum gelb ausgemalt habe und auf den langen Autofahrten auf dem
       Rücksitz neben meiner Schwester warmgelb leuchtende Weihnachtsbäume in der
       Dunkelheit gezählt habe, müssen das meine Nachbarn ja nicht auch noch schön
       finden.
       
       Weihnachtsbeleuchtung ist wirklich die einzige Dekoidee, der ich etwas
       abgewinnen kann. Die mir, haha, einleuchtet. Das Treppenhaus hat in diesem
       Jahr der freundliche Nachbar aus Kasachstan geschmückt, der uns sonst auch
       gern mal bei kleineren Fahrradreparaturen aushilft. Das ist nur einer der
       Gründe, warum ich mich hier wohlfühle. Ein anderer ist, dass ich aus jedem
       Fenster erst einmal auf Bäume gucke.
       
       Wenn mich Menschen, die ich aus meiner Vorortexistenz kenne, besuchen
       kommen, gucken die trotzdem erst einmal sehr mitleidig. Was mich je nach
       allgemeiner Stimmungslage ärgert oder amüsiert. Natürlich sind diese
       Wohnblöcke hier, die Mitte der 60er-Jahre gebaut wurden, nicht unbedingt
       der Inbegriff dessen, was wir unter architektonischer Schönheit verstehen.
       Ich hätte gewiss auch nichts gegen einen lichtdurchfluteten Altbau und eine
       Gründerzeitfassade gehabt.
       
       ## Das Viertel ist an einem interessanten Kipppunkt
       
       Das hier sind nun [3][zweckmäßige, graue, gleichförmige Betonquader.] Keine
       Platte wohlgemerkt, dazu sind die Häuser nicht hoch genug, aber doch schon
       so, dass man sie, wenn man im richtigen Winkel fotografiert und den
       Ausschnitt geschickt wählt, als Themenfoto benutzen kann für irgendwas mit
       Brennpunkt, Armut, Hartz IV oder so.
       
       In anderen Gegenden der Welt würde dies trotzdem als 1a-Wohnviertel
       durchgehen, vor allem dank der großzügigen Grünanlagen und top
       ausgestatteten Spielplätze, auf denen jeden Tag ein Gärtnerteam
       herumfuhrwerkt. Ich muss mich um das Laub der Bäume nicht kümmern. „Ist ja
       alles nicht mehr so“, wie meine Oma zu floskeln pflegt. Das Viertel ist an
       einem interessanten Kipppunkt, scheint mir.
       
       Es gibt eine wilde Mischung aus den ganz Alten, die herzogen, als diese
       Bauweise für kurze Zeit als topmodern galt (als die schicken
       Altbauwohnungen noch mit Kohleöfen geheizt wurden und das Klo eine halbe
       Treppe tiefer hatten), den vor Jahrzehnten Zugewanderten, die sich noch
       erinnern, dass einzelne Blöcke bestimmten Nationalitäten zugeordnet waren
       (damals schuf das Wohnungsamt die Parallelgesellschaften noch selbst), den
       vor kurzem Zugewanderten, den Klebengebliebenen, den Zurückgekommenen, den
       Studenten, den jungen Paaren und, na ja, Leuten wie mir halt.
       
       Die Mieten klaffen jedenfalls innerhalb ein und desselben Blocks
       erstaunlich weit auseinander. Und die Weihnachtsbeleuchtungskonzepte nun
       auch, um mal zum Ausgangspunkt zurück zu kommen, denn neben den bunten,
       blinkenden, üppigen LED-Lichtergirlanden, gibt es natürlich auch noch
       klassische Schwibbögen, die morgens von einer faltigen Hand aus und abends
       wieder angeknipst werden.
       
       Und bei denen man Kerzen noch tauschen kann, statt gleich das ganze
       batteriebetriebene Billiggelumpe zu entsorgen, wie mein Vater selig an
       dieser Stelle fluchen würde. Aber es kommt ja alles wieder, tröste ich
       mich.
       
       Sieh, der ewige Kreislauf des Lebens, denke ich auch, als mein
       Erstgeborener zu erkennen gibt, das er ab jetzt den Weihnachtsgrinch zu
       geben gedenkt, mit verächtlichem Schnauben und Augenrollen und allem. Ach
       guck, denke ich, noch ein bis zwei Jahre aufgeregt hüpfende Weihnachtsmagie
       mit dem Kleinen, dann haben wir das Thema auch erst mal durch. Seltsam. Mal
       sehen, wie lange die Weihnachtsbeleuchtung noch hängt.
       
       30 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zeit.de/kultur/2021-12/weihnachtsbeleuchtung-led-dekoration-beleuchtungsindustrie
   DIR [2] /Weihnachtsbeleuchtung-in-Madrid/!5646547
   DIR [3] /Ausstellung-zu-Brutalismus/!5407058
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nadine Conti
       
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