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       # taz.de -- Fahrradfahren in Rom: Radprämie reicht nicht
       
       > Im Zuge von Corona hat die Stadtregierung von Rom viele neue Radspuren
       > eingerichtet. Das Problem: Viele finden Radfahren uncool.
       
   IMG Bild: An Zweirädern mangelt es in Rom nicht. Nur sind die meisten motorisiert
       
       Rom taz | Wenigstens in einem Punkt unterscheiden sich die
       Drei-Millionen-Metropolen Rom und Berlin nicht groß: In beiden Städten
       schwingen sich jeden Tag gefühlt an die 500.000 Menschen auf ihr Zweirad,
       um ins Büro, zur Uni oder zum Shopping zu fahren. Mit einem kleinen
       Unterschied allerdings. [1][In Berlin ist der Großteil der Zweiräder
       muskelgetrieben], in Rom dagegen sind Fahrräder eine mehr als bescheidene
       Restgröße gegenüber den Schwärmen von Scootern, Rollern, Motorrädern.
       
       Nur ein Privileg nämlich genießen Radfahrer*innen an den Ufern des
       Tiber seit Jahrzehnten: den Status des Paradiesvogels. Noch in den späten
       neunziger Jahren konnte man ganze Tage in Rom, im Zentrum genauso wie im
       Stadtviertel, unterwegs sein, ohne auch nur ein einziges Fahrrad zu Gesicht
       zu bekommen. Seither allerdings hat es einen leichten Aufschwung gegeben –
       an mindestens drei oder vier Radler*innen zieht der Bus auf der rund
       fünf Kilometer langen Fahrt ins Zentrum schon seit diversen Jahren vorbei.
       Derweil jedoch prägen weiterhin die Dutzenden Scooter das Bild, die
       ihrerseits mit oft waghalsigen Manövern den Bus überholen.
       
       Doch dann kam Covid, kamen im März 2020 Lockdown und Homeoffice, kam die
       erzwungene Entschleunigung der Stadt – und mit ihr die leise Hoffnung,
       neben all den negativen Konsequenzen könne die Pandemie doch auch als
       positive Folge wenigstens Ansätze einer Mobilitätswende mit sich bringen.
       Plötzlich sah man sie zuhauf: die City-, Mountain- oder E-Bikes, auf denen
       ungestört vom drastisch reduzierten Pkw-Verkehr Menschen wochentags zur
       Arbeit radelten, während am Wochenende ganze Familien in die Pedale traten,
       denn schließlich war sportliche Ertüchtigung ja auch während des Lockdown
       einer der staatlich akzeptierten Gründe, dem heimischen Hausarrest zu
       entfliehen.
       
       [2][Und der Staat tat das seine], um die Verkehrswende anzuschieben. Die
       nationale Regierung legte den „Bonus bici“, den Fahrradbonus auf. Bis zu
       500 Euro gab es als 60-Prozent-Zuschuss auf den Kaufpreis. Wer also ein Rad
       für 500 Euro erstand, musste nur 200 aus eigener Tasche zahlen, und wer
       eines für 840 Euro wollte, bekam 500 davon aus dem Bonus.
       
       ## Räder waren ausverkauft
       
       „Letztes Jahr haben uns die Leute die Türe eingerannt“, erzählt Fabrizio
       Franchi vom Laden „Cicli Franchi“, an die 300 Fahrräder seien binnen
       weniger Wochen weggegangen, „und wir hätten auch deutlich mehr verkaufen
       können, doch die Lieferanten kamen einfach nicht mehr nach.“
       
       Auch die Stadtregierung unter der damaligen Bürgermeisterin Virginia Raggi
       von den Fünf Sternen wollte ihren Beitrag leisten und beschloss die
       Einrichtung von 150 Kilometern neuer Radwege – bei einem bis dato mehr als
       bescheidenen Netz von bloß 250 Kilometern in der ganzen Stadt. Meist waren
       es Pop-up-Radwege, die da mit dem Pinselstrich auf Kosten von
       Autofahrspuren und Parkplätzen entstanden.
       
       Und hat es daraufhin die Verkehrswende gegeben? Fabrizio Franchi verzieht
       das Gesicht. „Mit dieser Frage sind Sie definitiv in der falschen Stadt
       unterwegs“, gibt er zurück. „Wir sind wieder da, wo wir vor Covid waren“.
       Eine Kundin mischt sich ins Gespräch ein. Lehrerin ist sie, auch sie hat
       ein E-Bike mit dem Bonus bici gekauft, sie wollte damit zur Schule radeln.
       „Eigentlich eine angenehme Strecke, sie führt zum großen Teil durch die
       Villa Borghese“, einen der größten Parks Roms. Doch die Logistik drumherum
       stimme einfach nicht. „In der Eigentümergemeinschaft meines Wohnblocks
       wollen sie von Fahrradständern nichts wissen, und auch meine Schule hält
       keine Plätze für Räder vor“, klagt die junge Frau. „Ich müsste mein E-Bike
       auf der Straße abstellen, mit dem hohen Risiko, dass es mir geklaut wird.“
       
       ## Rom hat 40-mal mehr tödliche Radunfälle als Berlin
       
       Und die neuen Radwege? Die hätten am Ende auch kein wirkliches Netz
       geschaffen, klagt sie, und im Autoverkehr fühle sie sich weiter
       einigermaßen unsicher. Das International Transport Forum unterlegt dieses
       Gefühl mit Zahlen. Auf eine Milliarde Radfahrten kommen in Berlin 21
       tödliche Unfälle – in Rom sind es 820, fast 40-mal so viel. Fünf
       Radfahrer*innen ließen 2020 im römischen Verkehr ihr Leben, 2019 waren
       es sieben gewesen – in Berlin dagegen, bei einem vielfach höheren
       Fahrradverkehr, nur sechs.
       
       Das Ende vom Lied: Bloß sonntags radelt die Lehrerin mit der Familie ins
       Grüne. Anders hält es Aart Heering, holländischer Journalist, der seit
       Jahren in der Ewigen Stadt lebt. Gewiss, die Autofahrer*innen sehen,
       so meint er, die Leute auf dem Rad als Fremdkörper und Störenfriede im
       Verkehr, ziehen rücksichtslos mit Minimalabstand an ihnen vorbei. Aber eine
       Lösung hat der Niederländer: „Extrem rechts“ müsse man sich positionieren.
       Nein, das will er nicht politisch verstanden wissen, sondern bloß als
       Empfehlung fürs Fahrverhalten. Andererseits gilt aber auch: „Man muss immer
       höllisch auf sich plötzlich öffnende Autotüren aufpassen.“
       
       ## „Fahrrad ist was für Looser“
       
       Das Problem der Römer*innen sei aber gar nicht so sehr das Risiko, meint
       Heering, und auch nicht die Tatsache, dass die Stadt recht hügelig ist.
       Anders als in Mailand sei es in Rom einfach nicht hip, mit dem Fahrrad
       unterwegs zu sein. Eine Einschätzung, die die Tochter zu Hause bestätigt.
       Auf die Frage, wieso sie nicht zur Schule radelt, statt sich selbst in
       Covidzeiten in den vollen Bus zu zwängen, gibt sie nur trocken zurück: „Wie
       stünde ich denn dann unter meinen Kumpels da? Fahrrad ist was für Looser.“
       
       So sah das offenkundig auch Enrico Michetti, der im letzten Oktober bei den
       Kommunalwahlen als Bürgermeisterkandidat der Rechten antrat. Die gerade
       erst eingerichteten 150 Kilometer Radwege wollte er umgehend wieder
       abschaffen. „Sie sind gefährlich und behindern den Verkehr“, schimpfte er,
       und sie seien bloß „ideologisch“ motiviert. Radwege gehörten für ihn bloß
       ins Grüne, nicht in die Stadt. In der Stichwahl kam Michetti dann nur auf
       40 Prozent, doch verloren hat er wohl kaum wegen seines fahrradfeindlichen
       Kurses. Die neuen Radwege jedenfalls wurden nicht abgeschafft, doch ein
       echter Magnet sind sie weiterhin nicht. „Morgens bei der Fahrt ins Zentrum
       habe ich die Piste meistens ganz für mich allein“, resümiert jedenfalls
       Heering.
       
       28 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
       
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