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       # taz.de -- Memorial-Mitbegründerin über Russland: „Wie schnell die Angst zurückkehrt“
       
       > Russland will die wichtigste Menschenrechtsorganisation des Landes,
       > Memorial, verbieten. Ein Gespräch mit einer Mitbegründerin.
       
   IMG Bild: Staat als Gefängnis? Ausstellungsstücke in Museum der Menschenrechtsgruppe Memorial in Moskau
       
       taz: Frau Schtscherbakowa, was erwarten Sie von den Prozessen gegen
       Memorial? 
       
       Irina Schtscherbakowa: Ich bin nicht optimistisch. Ich hoffe jedoch, dass
       es für unsere Unterstützer eine Verschnaufpause gibt. Mit einem Sieg der
       Vernunft rechne ich nicht mehr.
       
       Richtet sich das Verbot auch gegen Deutschland? 
       
       Zwei Prozesse finden gegen Memorial statt, die als Organisationen
       liquidiert werden sollen: gegen das Menschenrechtszentrum und gegen das
       Netzwerk Memorial International. Das betrifft nicht nur Deutschland, auch
       Frankreich, Tschechien und andere Länder. Es ist eine breitere Maßnahme, in
       der [1][Deutschland eine besondere Rolle] zukommt. Allein schon wegen der
       engen Zusammenarbeit mit der Böll-Stiftung.
       
       Ist Russland autoritär oder schon ein totalitäres System? 
       
       Ich bin nicht überzeugt, dass wir bereits im Totalitarismus angekommen
       sind, wie es etwa Lew Gudkow vom Lewada-Institut annimmt. In einer Diktatur
       tauchen immer wieder verschiedene Elemente auf. Machtausübung basiert auf
       Gewalt. Wir befinden uns in einer hybriden Situation mit unterschiedlichen
       Elementen aus den 1930er Jahren und aus den Systemen Lateinamerikas.
       Gleichzeitig bestehen Ausreisemöglichkeiten weiter, auch wenn es nicht mehr
       viele gibt. Auch soziale Netzwerke und Massenmedien stehen uns noch zur
       Verfügung. Wir können noch miteinander kommunizieren. Es herrscht eine
       absolute Machtvertikale, die sich um eine Figur dreht. Alle anderen sind
       einfach unsichtbar. Früher gab es das kommunistische Politbüro, davon
       kannte man zumindest Fotos und Bilder. Auf der Straße wird heute kaum
       jemand einen der jetzigen Akteure erkennen. Das ist ihnen auch bewusst.
       
       In den letzten zehn Jahren ist ein riesiger Gewaltapparat entstanden … 
       
       Der fußt aber nicht auf irgendeiner theoretischen Grundlage, selbst was
       den Entwurf der Zukunft angeht. Neues wird nicht entworfen. Alles dreht
       sich um die Vergangenheit, nur ohne Kontrolle einer Partei. Es geht nicht
       um einen neuen Menschen, einen „reinrassigen“, oder eine glückliche
       kommunistische Zukunft.
       
       Memorial ist also ein permanenter Angriff auf das offizielle
       Geschichtsbild, auf die Wahrnehmung der Historie durch den ewigen
       Tschekisten (Geheimdienstler)? 
       
       Ja, sie sind in der Vergangenheit gefangen.
       
       Existiert in diesem Zirkeln noch der Traum einer gleichgeschalteten
       Gesellschaft? 
       
       Vorstellungen über Gesellschaft sind eher reduziert. Worauf sollte sich das
       auch gründen? Natürlich scheint Populismus immer durch, auch kleine
       Bestechungsgeschichten kommen an den Tag. Bislang sehen wir nur Elemente
       einer unfreien Gesellschaft: Konservatismus, Beschwörung der Vergangenheit
       und Traditionalismus gehören dazu. Die orthodoxe Kirche reiht sich ein. Sie
       ist auf Vergangenheit fixiert. Auch der Begriff des „[2][ausländischen
       Agenten]“ stammt aus den 1930er Jahren. Es ist eine ziemliche Giftmischung.
       Ohne eine feste Ideologie, denn es ist dem Führungszirkel egal, was andere
       Staaten über sie denken. Nicht einmal der Schein wird aufrechterhalten. Wir
       haben es mit einem Gegner zu tun, dessen Ziel klar ist, der lediglich
       regelmäßig die Masken und die Farbe wechselt. Das sichert die Fortexistenz.
       Mal tritt die Kirche auf, mal Stalin, dann wieder Stalin als Hüter der
       Kirche. Völlig unhistorisch.
       
       Ein Sammelsurium? 
       
       Genau, ich erinnere mich an eine Karikatur bei RIA Nowosti: Ein US-Panzer
       rollt an, und auf einem Rohr steht „Memorial“. Das ist eine ungewollte
       Parodie aus dem Kalten Krieg. Daher ist es auch schwer, eine tragfähige
       Totalitarismustheorie zu entwickeln.
       
       Herrscht in der russischen Führung noch der Glaube an die historische
       Überlegenheit der UdSSR? 
       
       Mit irgendwelchen Mythen leben sie womöglich. Ich denke, es ist eher der
       gekränkte Nationalstolz, der sie anpeitscht, das ständige Gefühl, man
       beleidigt uns und unterschätzt uns, man erkennt unseren Sieg im Zweiten
       Weltkrieg nicht an. Ist das nicht absurd? Wer stellt das schon infrage?
       Braucht man Gesetze dafür? Der „ausländische Agent“ bedeutet automatisch
       Spion. Demnach ist Russland wieder eine Festung, alle sind gegen uns.
       
       Ist das nicht Déjà-vu? 
       
       Auffallend – und erschreckend für Historiker – ist, wie schnell Angst
       wieder zurückkehrt: Ängste, etwa zu unterschreiben, Hypotheken nicht
       abzahlen zu können, etwas zu laut zu sagen, seine Stelle zu verlieren. Klar
       war der Widerstand in den 30er schwächer als in den letzten Jahren.
       Atomisierung und Gleichgültigkeit breiten sich heute aus. Repressalien und
       Denunziation sind Begleiterscheinungen einer Diktatur.
       
       Bewegt sich Russland in einer historischen „Pfadabhängigkeit“, der es nicht
       entkommt und der es auf Gedeih und Verderb folgen muss? 
       
       Das wäre eine Vereinfachung. Daran möchte ich nicht glauben. Wir haben
       jahrzehntelang in Unfreiheit gelebt. Ob unsere Generation den Wandel noch
       erlebt? Eine Befreiung wird kostspieliger als in den 1980er Jahren. Wir
       haben es wie in den 1930ern mit Demokratiedefiziten zu tun: Viele wenden
       sich weltweit von der Demokratie ab. Und auch unsere Gesellschaft empört
       sich kaum über grassierende Gewalt und Folter.
       
       26 Nov 2021
       
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