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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Sich mutig in die Sätze stürzen
       
       > Josefine Klingner stottert. Lange hat sie nach Vorbildern gesucht, die
       > ihr zeigen, dass sie alles werden kann. Nun ist sie dieser Mensch für
       > andere.
       
   IMG Bild: Josefine Klingner in ihrem Wohnzimmer
       
       Sie stottert und sie stolpert mitunter im Leben. Dann fängt Josefine
       Klingner sich und sieht: Wer stolpert, kann auch aufstehen.
       
       Draußen: Leipzig, Tramhaltestelle [1][Waldplatz]. Josefine Klingner steht
       an eine Hauswand gelehnt, man erkennt sie an ihren Waden. Zum einen sind
       sie übersät mit vielen kleinen Tattoos, zum anderen sind sie nackt. Hat es
       über 10 Grad, trägt Josefine Klingner kurze Hosen. Dieser Samstag
       überschreitet die Marke nur knapp: Laut App sind es 11 Grad, gefühlt
       weniger. Ein anstehender Lockdown liegt in der Luft.
       
       Drinnen: Breite Straßen, breite Gehwege, breite Hauseingänge. Die
       37-Jährige wohnt im zweiten Stock eines beige gestrichenen Altbaus. Der
       Flur gehört ihren Gravel Bikes – den Tourenrädern –, an der Tür zum
       Badezimmer klebt ein schwarzes Rennrad-Wandtattoo.
       
       Bergauf: Klingner kann eher Rad fahren als ihr Bruder, obwohl der ein Jahr
       älter ist. Als Teenager fährt sie auf dem Rollentrainer vorm Fernseher die
       Etappen der Tour de France mit. „Es geht ums sich selber Spüren, ums
       Freisein, ums sich Auskotzen und manchmal auch ums Blutschmecken, aber so
       weit geh ich höchstens einmal im Jahr.“ Klingner fährt regelmäßig am
       Wochenende Dutzende Kilometer im Leipziger Umland, meistens entlang dieser
       Seen, die früher einmal Tagebaue waren. Am liebsten bergauf, wo das Herz
       laut pocht, nicht so gerne bergab, wo man nicht treten, aber höllisch
       aufpassen muss. „Lieber schmerzende Oberschenkel als Wind im Gesicht.“
       
       Komfortzone: Vom Sich-rollen-Lassen, vom Weg des geringsten Widerstands
       hält sie nicht so viel. Lange genug ist sie ihn gegangen. Josefine Klingner
       stottert, seit sie zwei Jahre alt ist. Auslöser ist meist ein Zusammenspiel
       aus genetischen, neurologischen und psychologischen Gründen. Die längste
       Zeit ihres Lebens war ihr Special Feature, wie sie es heute nennt,
       Entscheidungsgrundlage für alles. Geh ich in diesen Laden? Wechsel ich noch
       schnell die Straßenseite, bevor mich jemand ansprechen könnte? Mache ich
       das Abi? Bewerbe ich mich auf diesen Job oder muss ich da zu viel sprechen?
       Nach der mittleren Reife empfiehlt ihr ein Berufsberater beim Arbeitsamt,
       „irgendwo hinten“ in einem Büro zu arbeiten, wo man nicht so viel den Mund
       aufmachen müsse. Klingner folgt diesem Ratschlag, obwohl „der absolut gar
       nicht meiner Persönlichkeit entspricht“. Aber sie gesteht sich nicht zu,
       überhaupt so weit in sich hineinzuhorchen. Ihr Stottern gibt die Richtung
       vor und sie folgt.
       
       Normal: Dabei war das mal anders. Mit fünf Jahren kommt das Dorfkind
       Josefine auf ein sogenannte Sprachheilinternat mitten in Leipzig. „Da waren
       nur Kinder, die irgendeine Sprachbesonderheit hatten, das hat uns vereint.
       Niemand stach raus.“ Sie ist nicht mehr so frustriert, wenn ihr der erste
       Buchstabe oder die erste Silbe eines Wortes im Hals stecken bleiben, das
       ist ja bei allen so. So sehr es sie prägt, dort als völlig normal zu
       gelten, so sehr leidet sie unter der Trennung von ihrer Familie. Fünf Jahre
       lang sieht Josefine Klingner ihre Mutter und ihre Brüder nur an den
       Wochenenden, „das hat was gemacht mit unserer Beziehung“, sagt sie. Sie
       spüre das noch heute. Damals boxte ihr jeden Sonntagabend das
       Synthesizer-Intro von Spiegel TV direkt in die Magengegend. Die Melodie
       bedeutete: Die kurze Zeit mit meiner Mutter ist schon wieder vorbei.
       
       Therapie: Im Internat lernt sie, mit Bedacht zu sprechen. Die einzelnen
       Worte in Gedanken einmal abzutasten, bevor sie sie ausspricht. „Dabei
       wollen Kinder ja eigentlich nichts anderes, als einfach losquasseln“, sagt
       Josefine Klingner. Heute weiß sie, dass auch dieser Therapieansatz
       überhaupt nicht ihrer Persönlichkeit entsprach. „Ich habe viele Jahre
       gebraucht, um zu verstehen, dass ich mich mutig in die Sätze stürzen muss.
       Ohne groß nachzudenken.“
       
       Bruch: Mit zehn Jahren wechselt Josefine Klingner auf eine reguläre
       weiterführende Schule. Sie trifft dort auf Mitschüler:innen, mit denen sie
       schon zusammen im Kindergarten war, und die erinnerten sich: Mit der Josi
       war irgendwas, die ist damals einfach verschwunden. Plötzlich ist sie „die
       andere“. „Die einen hat mein Stottern überhaupt nicht interessiert, die
       anderen haben sich einen Spaß draus gemacht, haben mich nachgeäfft und
       gehänselt.“ Als zehnjähriges Kind in einem sozialen Gefüge seinen Platz zu
       finden, ist schon schwierig genug. Noch viel schwieriger wird es, wenn alle
       anderen schon eine Rolle für einen vorgesehen haben. Josefine Klingner
       wehrt sich über die Jahre dagegen, wird irgendwann die Freche, Forsche,
       Vorlaute, am Ende ist sie Klassensprecherin. Trotzdem gibt es Abende, an
       denen sie sich mit nassen Haaren ans Fenster stellt und auf eine Erkältung
       am nächsten Morgen hofft.
       
       Scham: Diese Jahre zwischen 10 und 16 sind die Zeit, in der die Scham in
       ihr Leben tritt. Sie erkennt sie in den Gesichtern mancher Menschen, wenn
       sie ins Stottern gerät. „Wenn Menschen dir das so spiegeln, glaubst du, du
       müsstest das selbst auch empfinden“, sagt Josefine Klingner. Die Angst vorm
       Stottern sei ihr von anderen immer wieder angeboten worden, irgendwann habe
       sie danach gegriffen.
       
       Neue Version: Nach der Schule gibt ihr Stottern an, wo’s langgeht. Josefine
       Klingner beginnt die Lehre, die der Berufsberater ihr nahelegt. Sie ist
       sich dieser Fremdbestimmtheit immer bewusst. Es dauert aber noch Jahre, bis
       sie sich erlaubt, sich auszumalen, was alles möglich wäre, würde sie aus
       ihr ausbrechen. Eines Nachmittags auf dem Heimweg von der Arbeit steigt sie
       vom Rad, legt sich auf eine Wiese in die Sonne und lässt all diese Gedanken
       zu. Kurz darauf kündigt sie und holt ihr Abitur nach.
       
       Vollbremsung: Leistungskurse Englisch und Geschichte, Supernoten,
       Riesenspaß. Klingner genießt ihre Abizeit und findet sich mit ihrem Zeugnis
       in der Tasche im Büro eines Studienberaters der Uni Leipzig wieder. Sie
       will das werden, was sie sich als Schülerin so sehr gewünscht hätte: Eine
       stotternde Lehrerin, die ihrer Klasse zeigt, dass man auch mit
       Sprachstörung Autoritätsperson sein kann. Der Studienberater erzählt
       Josefine Klingner von einem phoniatrischen Gutachten, das alle angehenden
       Lehrer in Sachsen zu absolvieren hätten. Sie hört nur „Stimme“,
       „Aussprache“, „Logopädie“ und wirft ihre Pläne ohne zu zögern über den
       Haufen. „Es sind diese Herausforderungen, bei denen ich nur einen Versuch
       habe“, sagt Josefine Klingner. „Wo ich nur einmal die Chance kriege,
       abzuliefern.“ Damals erschien ihr das unüberwindbar.
       
       Vorbilder: Sie studiert trotzdem Geschichte, nur nicht auf Lehramt. Nach
       ihrem Abschluss entscheiden ihre damalige Partnerin und sie, eine Familie
       zu gründen. Klingners Freundin wird schwanger, sie bekommen Theo. Josefine
       Klingner braucht ein festes Einkommen und entscheidet sich für einen Job –
       ausgerechnet im Callcenter. Sie arbeitet dort im Kundenservice eines großen
       amerikanischen Finanzdienstleisters. Sie weiß, dass sie auf ihrer Position
       unter ihren Möglichkeiten bleibt. Doch es musste erst Stefan zur Tür
       reinkommen, damit sie sich endlich traut, nach mehr zu greifen. „Ich hab’s
       sofort gemerkt, als er den ersten Satz sprach, obwohl er es wirklich gut
       kaschiert hat“, sagt Josefine Klingner. Stefan ist Kommunikationstrainer
       ihrer Firma – und er stottert. Es ist der Anstoß, den sie braucht. Als eine
       weitere Trainerstelle ausgeschrieben wird, bewirbt sie sich. Und kriegt den
       Job.
       
       Was sie will: Fünf Jahre lang hält sie Seminare zum souveränen Auftreten,
       dann beschließt sie, dass es Zeit ist für was Neues. Klingner schreibt ein
       Buch, in dem sie ihre Geschichte erzählt für die Hunderttausenden anderen
       Mädchen und Frauen in Deutschland, die stottern. Man weiß von Joe Biden,
       Bruce Willis, selbst Moses soll gestottert haben. „Ich habe manchmal das
       Gefühl, stotternde Frauen sind unsichtbar.“ Mit „Jetzt spuck’s endlich aus“
       hat sie ein Buch geschrieben, das sie früher selbst gerne gelesen hätte.
       Mittlerweile ist Klingner frisch ausgebildete Personal Coach und baut mit
       ihrer neuen Partnerin einen Hof in Sachsen-Anhalt um. Seit ein paar Tagen
       hängt dort ihr Praxisschild am Briefkasten. Ihren inzwischen acht Jahre
       alten Sohn hat sie letztens mal gefragt, ob er finde, dass sie merkwürdig
       spreche und ob sie ihm erklären solle, woran das liegt. „Er hatte keine
       Ahnung, was ich meine.“
       
       18 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Waldstra%C3%9Fenviertel
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Leonie Gubela
       
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