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       # taz.de -- Coronamaßnahmen in Deutschland: Linke, bleibt autoritätsskeptisch!
       
       > Die Coronabestimmungen können zum Teil nur mit härtesten Maßnahmen
       > durchgesetzt werden. Wo bleibt der Aufschrei der politischen Linken?
       
   IMG Bild: Polizeikontrollen in Baden-Württemberg während er Ausgangsbeschränkungen im April 2021
       
       Mit der linken Geduld für Impfverweigerer ist es vorbei. „Viel zu viele
       benötigen offenbar die Peitsche der Obrigkeit, um sich im Sinne des
       Gemeinwohls zu verhalten“, [1][schrieb erst vor wenigen Tagen der
       Schriftsteller Ilja Trojanow in der taz] zum Impfverhalten in diesem Land.
       Trojanow veröffentlichte 2009 das Buch „Angriff auf die Freiheit.
       Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“, in
       dem er sich kritisch mit staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre von
       Bürgern auseinandersetzte.
       
       Doch in der Covidkrise fantasiert auch er zumindest implizit einen starken
       Staat herbei, der endlich entschlossener gegen Ungeimpfte vorgehen möge –
       zum Beispiel durch eine Impfpflicht.
       
       Und Trojanow ist wahrlich nicht allein mit seinem Ruf nach einem harten
       Eingreifen der Obrigkeit. Im vergangenen Winter schon forderten diverse
       [2][linke Publizisten und Aktivisten einen ZeroCovid-Lockdown]. Um die Zahl
       der Infektionen auf zero – also null – zu senken, solle es
       Kontaktbeschränkungen und eine weitgehende Stilllegung des öffentlichen
       Lebens geben.
       
       Zwar warben die Initiatoren dafür, mithilfe von umfangreichen
       Umverteilungsmaßnahmen die soziale Last gerade für Arme abzufedern – aber
       trotz allem hätte ein solcher Komplettstillstand die Frage aufgeworfen, wie
       man entsprechende Vorgaben eigentlich durchsetzt.
       
       Die Antwort ist simpel: Mit staatlicher Gewalt – eine andere Möglichkeit
       gibt es nicht. In der Covidkrise entdeckten und entdecken viele eigentlich
       antiautoritäre Linke offenbar ihre Liebe zu Polizei und Obrigkeit und
       nehmen dabei weitgehend kritiklos erhebliche Eingriffe in die
       Selbstbestimmung von Menschen hin – mitunter von Menschen, die keineswegs
       zu den Privilegierten im Land gehören.
       
       ## Schwerverbrechen Autofahren
       
       Der Autor dieses Textes hat vor einigen Wochen erst in der Berliner U-Bahn
       beobachtet, wie vier Sicherheitsleute einen Mann umringten, der keine Maske
       aufgesetzt hatte. Man verstellte dem Mann „Fluchtwege“, die Körpersprache
       der Securitys wirkte alles andere als deeskalierend. Breitschultrig
       thronten sie über dem „Ertappten“, der seinerseits mit hängenden Schultern
       sofort seine Maske aufzog, nachdem man ihn dazu aufgefordert hatte.
       
       Als der Mann, der vermutlich die 50-Euro-Strafe nicht zahlen konnte oder
       wollte, nur kurz verweigerte, seinen Personalausweis vorzuzeigen, drohten
       die Männer sogleich mit der Polizei und führten ihn aus der Bahn wie einen
       Schwerverbrecher.
       
       Das sind die Szenen, die eine konsequente Umsetzung von Coronamaßnahmen
       fast zwangsläufig erzeugt. In Baden-Württemberg errichtete die Polizei im
       vergangenen Winter Kontrollpunkte, um Autofahrer aufzuhalten, die gegen die
       damals herrschende Ausgangssperre verstießen.
       
       Jovial teilte etwa die Polizei in Stuttgart-[3][Mitte im Dezember mit],
       dass sie einen Autofahrer aufgegriffen habe, der „glaubhaft versichert
       [habe], dass er pünktlich losgefahren war“ und nur wegen eines Staus nicht
       rechtzeitig am Ziel angekommen sei. Am damals ersten Wochenende mit
       Ausgangssperre habe man es noch bei Ermahnungen belassen. Rechtschaffene
       Bürger mussten sich vor der Polizei rechtfertigen, warum sie sich frei in
       der Öffentlichkeit bewegten, obwohl die Erfahrungswerte für den Nutzen
       einer Ausgangssperre [4][widersprüchlich waren].
       
       In Hamburg jagte die Polizei im März mit einem Streifenwagen einen
       Jugendlichen durch den Park, weil er – im Freien – gegen Coronamaßnahmen
       verstieß. Er habe andere „umarmt und abgeklatscht“, teilte die Polizei
       später mit. Ist das ein Grund, eine gefährliche Verfolgungsjagd in einem
       öffentlichen Park aufzunehmen?
       
       Einen breiten gesellschaftlichen Aufschrei aufseiten der Linken gegen
       derlei Auswüchse gab es nicht. Der Kreis Hildesheim richtete sogar eine
       E-Mail-Adresse ein, unter der Bürger Verstöße gegen Coronarestriktionen
       melden konnten. Ein Stern-Autor sah darin „einen letzten verzweifelten
       Versuch, diejenigen ins gemeinschaftliche Rettungsboot zu zwingen, die
       meinen, auf der potenziell tödlichen Welle auch noch surfen zu müssen“.
       
       ## Arme besonders betroffen
       
       Ein Klima der Denunziation machte sich breit. Aktuell ist es vor allem
       Die Linke, die einen harten Lockdown fordert. Zwar erneut mit sozialem
       Ausgleich, doch in der politischen Realität in Deutschland dürfte der
       nächste Lockdown eher wieder kaum ausreichende Kompensation für Arme geben.
       
       Laut [5][Reichtums- und Armutsbericht] der Bundesregierung hatten im
       vergangenen Sommer 30 Prozent der Befragten mit besonders niedrigen
       Einkommen seit Beginn der Pandemie Probleme, laufende Ausgaben zu decken.
       Was bleibt, ist vermutlich die harte staatliche Hand. In Thüringen will
       Gesundheitsministerin Heike Werner, auch sie von den Linken, [6][verstärkt
       die Polizei einsetzen, um 2G in Lokalen zu kontrollieren]. Polizisten, die
       durch Gastronomie-Einrichtungen streifen – ist das linke Politik?
       
       In Berlin hat der Senat in dieser Woche die 3G-Regeln auf die Nutzung von
       Bahnsteigen ausgeweitet. Sie gelten auch für Obdachlose, die dort im kalten
       Winter Unterschlupf suchen. „Grundsätzlich ist es so, dass Kontrolleure
       Personen abweisen müssen, die die 3G-Bedingung nicht erfüllen“, teilte die
       Berliner Sozialverwaltung am Dienstag auf Anfrage der Berliner Zeitung mit.
       Im schlimmsten Fall werden Sicherheitskräfte nun die Ärmsten der Armen aus
       warmen Unterschlüpfen vertreiben müssen.
       
       ## Berufsverbot für Pfleger
       
       Längst ist klar, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung sich nicht gegen
       eine Corona-Infektion wird impfen lassen – was neue Fragen für die
       politische Linke aufwirft. Die neue Bundesregierung plant derweil, eine
       Impfpflicht für Pfleger einzuführen.
       
       Wer sich nicht fügt, hat [7][praktisch Berufsverbot]. Menschen, die unter –
       politisch verschuldet – schwersten Bedingungen für wenig Geld einen der
       wichtigsten Dienste an der Allgemeinheit leisten, werden womöglich
       arbeitslos. Sollte es irgendwann eine allgemeine Impfpflicht geben, würden
       Bußgelder vermutlich gerade Arme an die Grenze ihrer sozialen Existenz
       bringen. Der Ruf nach konsequentem Durchgreifen hat potenziell verheerende
       soziale Folgen.
       
       Der Hass auf die vermeintlichen Delinquenten hat in der Debatte
       überhandgenommen, wofür nicht zuletzt Äußerungen von Politikern und
       Medizinern sorgten. Frank Ulrich Montgomery, stellvertretender Vorsitzender
       des Weltärztebundes, sprach etwa von einer [8][„Tyrannei der Ungeimpften“].
       
       Die Bestrafungsfantasien gegenüber Nichtgeimpften, die sich in der
       zwischenzeitlichen Abschaffung kostenloser Tests, der Einführung von 2G
       (obwohl auch Geimpfte ansteckend sind) und der Abschaffung der
       Entgeltfortzahlung im Quarantänefall zeigt, droht die Gesellschaft noch
       weiter zu spalten. Hier sollten Linke ein Gegengewicht bilden und die
       Verteidigung von Bürgerrechten und Solidarität mit vermeintlich Abtrünnigen
       nicht der politischen Rechten überlassen, die die Zurückgewiesenen nur zu
       gern in ihre Reihen integriert.
       
       Der Impuls der Abneigung, den viele Linke gegen Nichtgeimpfte haben, ist
       verständlich. Wieso sollte man sich solidarisch zeigen mit Menschen, von
       denen man glaubt, dass sie ihrerseits unsolidarisch gegenüber der
       Gemeinschaft handeln? Eine Lösung für das Problem hat der Autor auch nicht.
       
       Vielleicht muss man sich mit dem Gedanken abfinden, dass Solidarität
       mitunter eine Einbahnstraße ist. In Deutschland gibt es keine Todesstrafe
       und keine lebenslange Haft, weil man auch dem schlimmsten Straftäter eine
       Rückkehr in die Gesellschaft ermöglichen möchte.
       
       Im Vergleich dazu sind Ungeimpfte harmlose Abweichler von der (übrigens
       ziemlich neuartigen) sozialen Norm. Es sind Nachbarn, Freunde, Kollegen und
       Menschen, die in anderen Bereichen ihres Lebens einen Dienst an der
       Gesellschaft leisten. Der autoritäre Staat ist nicht das geeignete Mittel,
       um ihnen zu begegnen.
       
       12 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Solidaritaet-in-der-Pandemie/!5815713
   DIR [2] /Vorschlaege-der-Initiative-Zero-Covid/!5739231
   DIR [3] https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.coronavirus-in-stuttgart-polizeikontrolle-98-personen-sind-zu-spaet-daheim.01fd9f2f-ed13-4bf7-8d93-cc557837554c.html
   DIR [4] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/uni-giessen-naechtliche-ausgangssperren-laut-studie-nicht-effektiv-17304680.html
   DIR [5] https://www.tagesschau.de/inland/corona-armut-105.html
   DIR [6] https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/corona-regeln-verordnung-polizei-kontrollen-100.html
   DIR [7] /Impfpflicht-in-Gesundheitsberufen/!5821531
   DIR [8] https://www.philomag.de/artikel/tyrannei-der-ungeimpften-zugespitzt-aber-ethisch-richtig
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörg Wimalasena
       
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