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       # taz.de -- Georg Stefan Troller über sein Leben: „Ich darf nicht verzeihen“
       
       > Der Autor, Journalist und Filmemacher Georg Stefan Troller hat in seinem
       > Werk die Möglichkeiten des Menschen ausgelotet. Nun ist er hundert
       > geworden.
       
   IMG Bild: Der Autor, Drehbuchautor und Fernsehjournalist Georg Stefan Troller wurde am 10. 12. 2021 hundert
       
       taz: Herr Troller, Sie haben in Interviews immer wieder gesagt, Sie seien
       nie Sie selbst gewesen. Was haben Sie versteckt? 
       
       Georg Stefan Troller: Wahnsinnige Komplexe! Erstens, weil ich so hässlich
       war als Kind und zweitens, weil ich Jude war. Und weil einen die ganze
       Umwelt, auch die, die dir freundlich gesinnt war, unbewusst als anders
       eingestuft hat. Und der Andere ist typisch – was immer das bedeuten sollte.
       Aber dieses Wort typisch hat mich markiert als Kind. Es bedeutete natürlich
       typisch jüdisch. Warst du gut im deutschen Aufsatz, aber schlecht im
       Turnen? So wurde jüdische „Leibfeindlichkeit“ mit dem Wunsch, sich der
       Mehrheit anzugleichen, zusammengelegt. Du hast dich also als Deutscher
       fühlen wollen, um mit der Mehrheit mitlaufen zu dürfen. [1][Aber in
       Wirklichkeit warst du ein „leibfeindlicher“ Jude]. Ja und dann noch die
       Emigration, die natürlich eine völlige Aufgabe des Selbstwertgefühls
       bedeutet. Und das über Jahre hinweg. Und die Angst. Man ist ja nicht stolz
       darauf, dass man Angst hat.
       
       Wie lange wollten Sie Deutscher sein? 
       
       Noch immer. Deutscher Dichter, deutscher Literat, deutscher Filmemacher.
       Warum es ableugnen? Dieser Drang, natürlich auch zur deutschen Sprache, hat
       mich ja dahin gebracht, wo ich dann in Gottes Namen gelandet bin.
       
       Haben Sie sich schuldig gefühlt, weil Sie Deutscher sein wollten? 
       
       Auch das. Man ist dem deutschen Schicksal entronnen. Hatte man das Recht,
       sich abzusetzen? Ach wissen Sie, das sind alles so zu missbilligende
       Gefühle, zu denen man nicht gerne steht, aber es stimmt schon irgendwie,
       ja. Stellen Sie sich vor: Irgendwo im Elsass, wir hatten eine ganze Gruppe
       „grauer Mäuse“, also deutsche Soldatinnen gefangen genommen – Weihnachten
       44. Und die lagerten dann in einer Scheune auf Stroh und sangen deutsche
       Weihnachtslieder. Schöne Mädchen, deutsche Weihnachtslieder. Und da ist der
       Troller, der im Eingang steht und sich das anhört. Und was fühlt der?
       
       Und was fühlte er? 
       
       Das ist gar nicht zu beschreiben.
       
       Haben Sie sich später noch mal in eine Deutsche verliebt? 
       
       Ja. Immer!
       
       Immer? 
       
       Na nicht immer, aber häufig ja. Das war auch wieder ein Stück… ersehnte
       Wiedergutmachung. Von einer deutschen Frau geliebt zu werden ist ja dann
       ein Stück… Bekehrung oder so. Man hat sie den Nazis abspenstig gemacht und
       hat sie dazu gebracht, dich, den Juden, zu lieben. Das ist doch schön. Na
       ja, die Frau sagte mir dann, eigentlich liebst du mich ja gar nicht, du
       liebst ja nur deine Rückkehr, die in mir personifiziert ist. Und das wars
       wohl auch …
       
       Haben Sie den Deutschen und den Österreichern verziehen? 
       
       Oh, das ist kein Wort, das ich verwenden würde. Ich darf nicht verzeihen.
       19 Mitglieder meiner Familie sind ermordet worden. Was habe ich zu
       verzeihen? Das ist ja unmöglich.
       
       Das dürfen Sie nicht. 
       
       Nein. Sich abgefunden haben, es hinnehmen, sich sagen, die Jungen können ja
       nichts dafür. Und so weiter. Ja. Aber es geht nicht ums Verzeihen. Dazu
       habe ich kein Recht.
       
       Hätten Sie gerne verziehen oder das Recht dazu gehabt, zu verzeihen? 
       
       Verstehen, ja, verzeihen, nein.
       
       Es geht heute viel um uralte Unrechtsregime, die jetzt aufgearbeitet
       werden. Glauben Sie, da muss verziehen werden? Also glauben Sie, die
       Jahrhunderte Rassismus und Sexismus müssen oder können verziehen werden? 
       
       Verziehen? Ich weiß nicht genau, was man darunter verstehen soll. Die Leute
       verzeihen sich selber sehr leicht. Ist damit irgendetwas bewiesen? Nein,
       das glaube ich eher nicht. Verstehen! Verstehen wäre Voraussetzung für ein
       echtes Verzeihen. Und wie viele Leute verstehen schon etwas?
       
       Wie können Journalist:innen dazu beitragen, dass sich die Menschen
       gegenseitig verstehen? 
       
       Na ja, ich habe es versucht … auf meine Art. Von den [2][Hunderten von
       Leuten, mit denen ich Interviews gemacht habe], stimmen ja nicht zwei
       miteinander überein. Jeder hat genau seine Überzeugung gehabt, sein Leben
       gelebt, sich selbst so und so eingeschätzt, immer anders. Und meine Aufgabe
       war, das nicht zu verdammen, sondern wertzuschätzen. Es zu begreifen und
       als menschliche Möglichkeit dem Publikum rüberzubringen. Das war mein
       Ansatz: Die Leute sollten sich [3][am Anfang des Films] sagen: Oh Gott, was
       bringt der Troller hier wieder für Typen heran. Und am Ende, 30 Minuten
       später: Aber … das bin ja ich!
       
       Und ist das die Aufgabe von gutem Journalismus? 
       
       Der Art, wie ich ihn begreife. Ich bin ja kein politischer Journalist. Aber
       ja, dass die Leute das, was sie vorher als fremd oder feindlich ablehnen,
       am Ende in sich selber entdecken.
       
       Muss man als Journalist versuchen, gerade die Leute den Menschen
       nahezubringen, die man eigentlich am meisten verabscheut? 
       
       Absolut, absolut. Wenn du sie nicht verstehst, kannst du sie auch nicht
       fertigmachen.
       
       Aber Sie haben fast keine Nazis interviewt. 
       
       Abrechnungen haben mich nicht interessiert.
       
       Die Gesellschaft, heißt es manchmal, bewege sich immer weiter auseinander.
       Gerade wird darüber am Fall der Menschen [4][gestritten], die sich nicht
       gegen Covid-19 impfen lassen wollen. Wäre es Aufgabe des Journalismus, auch
       diese Leute verständlich zu machen? 
       
       Absolut! Übrigens, hier in Frankreich ist eine rechtsextreme Welle, die
       alles Deutsche in den Schatten stellt. Die haben hier jetzt über 30 Prozent
       extreme Rechte mit [5][Le Pen] und [6][Zemmour]. Und der ist noch dazu ein
       Jude. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt wieder in die 30er Jahre
       eintreten. Einen Typ wie Zemmour hat es bis vor einem Jahr nicht gegeben.
       Das ist völlig neu. Erzreaktionär, ein französischer Nazi, Jude, hässlich
       bis dahinaus und hat auf Anhieb 15 Prozent der Bevölkerung hinter sich.
       
       Würden Sie ihn gerne interviewen? 
       
       Sehr gerne, ja! Aber der würde mich in Grund und Boden reden. Der ist zu
       clever, der ist ja Schriftsteller.
       
       Was würden Sie ihn fragen? 
       
       Ja… was will der Mann zutiefst? Schön werden, weil er sich als so hässlich
       empfindet. Durch Wort und politische Tat sich schön machen. Ja, das spüre
       ich hinter dieser Figur. Das ist interessant und es ist unsere Aufgabe, das
       zu zeigen: die ursächlichsten Ursachen, warum jemand so ist, wie er ist.
       Das ist doch faszinierend.
       
       Wussten Sie in Ihren Interviews immer schon vorher, worauf Sie
       hinauswollten? 
       
       Nein. Naja, sagen wir mal, ich habe eine Vorstellung. Aber ich lasse mich
       überzeugen, dass diese Vorstellung ein Unsinn war und dass dahinter etwas
       ganz anderes steckt. Und da bin ich auch zufrieden damit, wenn mir jemand
       das bringt. Aber ja, meistens habe ich eine Vorstellung. Was die
       eigentlichen Motivationen des Menschen sind.
       
       Gibt es für Sie objektiven Journalismus? 
       
       Nein. Objektive Wahrheit gibt es nirgendwo. Eine Approximation gibt es und
       eine persönliche, an die man selber glaubt, das gibt es ja. Aber ist sie
       die objektive Wahrheit? Das weiß ich nicht.
       
       Muss man als Journalist auch erfinden? 
       
       Ja! Gut erfunden ist mindestens so überzeugend wie schlecht gelebt. Ich
       habe in all meinen Büchern immer fiktive Interviews – manchmal als solche
       deklariert, manchmal nicht. Und das gehört auch dazu. Das Interview ist
       eine Erzählform wie die Novelle und kann als solche als eine andere Art von
       Fiktion eingestuft werden.
       
       Aber ist es nicht unsere Aufgabe, die Realität wiederzugeben, zu sagen, was
       ist? 
       
       Das stellt sich dabei möglicherweise eher heraus. Die eigentlichen
       Wahrheiten sind ja nicht als Daten verfügbar, sondern sind undeutlich,
       verwirrend, unerkannt oder halb erkannt usw. Wer weiß denn schon wirklich
       100-prozentig die Wahrheit über sich selber? Nur Schwindler behaupten das …
       oder Psychoanalytiker.
       
       Glauben Sie, die subjektive Berichterstattung, die Sie gemacht haben, war
       letztlich ehrlicher als die vermeintlich objektive, die gefordert war? 
       
       Es muss beides da sein. Aber ich stehe für [7][meine Art des Filmemachens].
       Es kommen halt andere Wahrheiten dabei heraus. Aber es sind ja auch
       Wahrheiten, nur nicht Meinungen. Es ist eben nicht Meinungsjournalismus.
       Das hat mich nie interessiert, was einer meint, ist eigentlich wurscht.
       Erst einmal muss ich wissen, warum er das meint, warum er diese
       Überzeugungen hat, woher die kommen.
       
       Wenn Sie wirklich etwas verstanden haben, wenn Sie einen Menschen voll und
       ganz verstehen, dann geht damit einher, dass Sie einem Menschen verzeihen? 
       
       Glauben Sie das? Es gibt einen berühmten französischen Satz dazu. „Tout
       comprendre c’est tout pardonner“, lautet er. Alles verstehen heißt alles
       verzeihen. Ich bin nicht der Auffassung, nein. Ich hatte als Nietzscheaner
       immer sehr viel Verständnis für die Nazis. Ja, was da dahinter war, konnte
       ich nachvollziehen. Aber verzeihen … Nein. Das Misstrauen gegenüber dem
       menschlichen Drang, sich einer Ideologie anheimzugeben und zu glauben, dass
       man auf diese Weise ein erfülltes Leben führt. Und darum geht es letztlich.
       Ideologieglauben heißt, sich einzureden, man lebt ein richtiges Leben, und
       das kann ich nicht nachvollziehen und auch nicht verzeihen.
       
       Also haben Sie die Nazis auch nicht verstanden? 
       
       Doch, verstanden habe ich es. Es kommt ja jetzt wieder auf uns zu. Die
       Sehnsucht nach Erlösung … von was? Ein Übermensch wie [8][Trump muss uns in
       die Erlösung leiten]? Was heißt denn das? Was wollen die Leute? Sie sind
       irgendwie unzufrieden mit dem modernen Leben. Das System kann sie nicht
       erfüllen, da fehlt etwas und das, was fehlt, ist der Glaube. Es ist ja
       heute alles auf Intellekt abgestellt. Der Glaube ist jenseits dessen. Indem
       man glaubte, konnte man sich als ein erfüllter Mensch empfinden, der
       richtig lebt und so weiter. Das ist uns mehr oder weniger überall verloren
       gegangen und ersetzt worden durch materielle Güter, durch Ehrgeiz, durch
       Geschäft, durch Geld, durch Sport, Sexualität, was immer einen heute
       befriedigt. Aber irgendwo bleibt ein tiefer Drang nach Glaube.
       
       Und woran glauben Sie? 
       
       Ich bin gottgläubig und ich glaube, dass der Mensch – obwohl es manchmal so
       aussieht – nicht verloren ist, dass er sich immer wieder finden wird und
       auf seinem Weg voranschreiten.
       
       10 Dec 2021
       
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