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       # taz.de -- Renaissance von Paul Abraham: „In dieser Stadt wollte ich sterben“
       
       > Der Komponist Paul Abraham feierte im Berlin der frühen 30er rauschende
       > Erfolge. Dann floh er vor den Nazis. Was man heute über ihn weiß, ist
       > teils widersprüchlich.
       
   IMG Bild: Der Komponist Paul Abraham (1892-1960)
       
       Zu den zahlreichen Verdiensten von Barrie Kosky als Intendant der Komischen
       Oper gehört es auch, eine musiktheatrale Traditionslinie wiederbelebt zu
       haben, die durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten brutal
       durchbrochen worden war. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des
       20. Jahrhunderts war Berlin, neben vielem anderen, ein Mekka der leichten
       Muse – der Operette.
       
       Zu ihren herausragenden Protagonisten gehörte der ungarisch-jüdische
       Komponist Paul Abraham, der, bis 1933 in Europa berühmt, sich im
       amerikanischen Exil künstlerisch nicht durchsetzen konnte, schwer erkrankte
       und nie wieder zu alter Form zurückfand.
       
       Auch seine Werke waren im Laufe der Jahrzehnte fast vollständig in
       Vergessenheit geraten, [1][bis Kosky kam] und sie ab den 2010er Jahren nach
       und nach auf den Spielplan der Komischen Oper setzte – nur wenige hundert
       Meter von jener Spielstätte entfernt, wo Abrahams Stücke einst ihre größten
       Erfolge feiern konnten: [2][dem Metropol-Theater.]
       
       Dabei hatte Paul Abraham keineswegs Operettenkomponist werden wollen. Nach
       (vermutlich) einer Banklehre studierte der 1892 in Apatin Geborene ab 1913
       in Budapest Komposition, brach das Studium aber aus ungeklärten Gründen
       1917 ohne Abschluss ab (sein Bruder fiel in diesem Jahr. Dass Abraham, wie
       er sagte, selbst Soldat gewesen sei, verwirft sein Biograf Klaus Waller
       unter Berufung auf eine ungarische Quelle).
       
       ## Mit ernster Musik ließ sich kein Geld verdienen
       
       Ziel des Studiums war es gewesen, ein „ernsthafter“ Komponist zu werden,
       doch leider ließ sich mit ernster Musik kein Geld verdienen. Abraham
       versuchte sich als Börsenspekulant und ging mit dieser Geschäftsidee
       krachend baden. Seine nächste Idee erwies sich als nachhaltiger. Der
       Komponist selbst hat kolportiert, dass er spontan beschloss, aufs
       Unterhaltungssegment umzusatteln, nachdem man ihm erzählt hatte, dass vom
       Schlager „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ (den Abraham „abscheulich“ fand)
       eine halbe Million Schallplatten verkauft worden waren.
       
       Gesagt, getan: „In einer Woche komponierte ich hundert Schlager“, erzählte
       er 1931 den Leipziger Neuesten Nachrichten. Bald wurden erste Lieder zu
       Erfolgen, fanden ihren Weg in Filme, dann entstanden ganze eigene Stücke,
       und aus dem ernsthaften Komponisten war ein ernsthafter Operettenkomponist
       geworden. Der große Erfolg von „Viktoria und ihr Husar“ in Deutschland
       brachte ihn schließlich nach Berlin.
       
       [3][Paul Abraham lebte nur knapp drei Jahre in der deutschen Hauptstadt],
       aber die waren entscheidend für seine Karriere – oder wären es gewesen,
       wenn er diese Karriere hätte weiterführen können. Doch Abraham war Jude,
       durfte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr arbeiten
       und kehrte 1933 nach Budapest zurück. Dort, und bald darauf in Wien, dann
       in Paris, komponierte und arbeitete er weiter, bis er schließlich in die
       USA emigrierte.
       
       Doch alle Erfolge, die er bis dahin noch erlebte, hatten nicht jene große
       Strahlkraft, die seine Arbeit in Berlin genossen hatte. Zu Beginn der
       dreißiger Jahre war er ein umschwärmter, unfassbar produktiver und
       kreativer Komponist gewesen, der in Tantiemen geradezu schwamm. Für etwa
       zwei Jahre war er „der nach Aufführungszahlen und wohl auch nach Einnahmen
       erfolgreichste Operettenkomponist der Welt“, schreibt sein Biograf Klaus
       Waller.
       
       ## Haus in der Fasananestraße war voller Kostbarkeiten
       
       In der Fasanenstraße 33 hatte der Komponist ein mehrstöckiges Haus gemietet
       (es steht heute nicht mehr), das er mit kostbaren Teppichen und
       Kunstgegenständen repräsentativ einrichten ließ. Hier wohnte und arbeitete
       er nicht nur selbst, sondern empfing auch KünstlerInnen zur Probenarbeit.
       Mehrere Komponisten, die er zur Instrumentierung seiner Musik angestellt
       hatte, arbeiteten ebenfalls im Haus. Legendär sollen die „Gulaschpartys“
       gewesen sein, die Abraham in der Fasanenstraße gab.
       
       Nur seiner Ehefrau wurde das Berliner Treiben ihres Mannes irgendwann zu
       bunt; Charlotte Abraham kehrte allein nach Ungarn zurück. Als Paul Abraham
       selbst schließlich, Anfang 1933, von einem Trupp Nazischläger handgreiflich
       am Betreten des Metropoltheaters gehindert wurde, war er fassungslos und
       wusste nicht, wie ihm geschah.
       
       Er hatte es nicht kommen sehen und stand urplötzlich vor dem Scherbenhaufen
       seines eben noch so glanzvollen Berliner Daseins, das er eigentlich auf
       Dauer angelegt glaubte. „In dieser Stadt wollte ich sterben“, soll er
       gesagt haben, als er sie verlassen musste. Es kam nicht so.
       
       Was man heute noch vom Leben des Paul Abraham weiß, ist lückenhaft und
       widersprüchlich. Der Journalist Klaus Waller, der sich intensiv mit Abraham
       beschäftigt und die bisher einzige Biografie des Komponisten verfasst hat,
       ist in seinem Buch gewissenhaft darum bemüht, diese Bruchstellen
       offenzulegen und Anekdoten auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu überprüfen.
       
       ## Dirigat in den Straßen Manhattans
       
       Und natürlich gibt es Legenden, die zu schön – oder zu operettenhaft
       herzzerreißend – sind, um sich nicht zu verselbständigen. Dazu gehört auch
       der offenbar häufig kolportierte Bericht über eine Szene, die sich auf
       einer belebten Straße in Manhattan abgespielt haben soll. Im Frack soll
       Abraham dagestanden und ein imaginäres Orchester dirigiert haben, bis er
       von einem Krankenwagen abgeholt und in eine große psychiatrische Klinik
       gebracht wurde, wo er mehrere Jahre bleiben sollte.
       
       Doch es gibt auch alternative Zeitzeugenberichte. Nach einer anderen
       Version sei Abraham in die Psychiatrie eingewiesen worden, nachdem er in
       einem New Yorker Hochhaus unsinnig oft mit dem Fahrstuhl auf und ab
       gefahren war. Dass diese Version wahrscheinlicher klingt, heißt aber auch
       nicht, dass sie stimmt. Wie auch immer: Paul Abraham litt unter ernsten
       psychischen und demenziellen Beeinträchtigungen, die von einer
       syphilitischen Meningoenzephalitis herrührten, die er sich in seiner
       Berliner Zeit zugezogen hatte.
       
       Aber auch vor seiner Erkrankung hatte er trotz intensiver Bemühungen in den
       USA nicht wirklich als Komponist Fuß fassen können. Dass er in Berlin als
       innovativer „König der Jazz-Operette“ gegolten hatte, zählte hier nichts;
       Amerika wusste schließlich besser, was Jazz war.
       
       Doch es gab für Abraham noch ein Nachspiel in Europa. 1956 kehrte er als
       Psychiatriepatient aus den USA zurück – nicht nach Ungarn, das hinter dem
       Eisernen Vorhang lag, sondern nach Deutschland, wofür eine Gruppe von
       UnterstützerInnen gesorgt hatte.
       
       ## Letzte Lebensstation: Hamburg, nicht Berlin
       
       Auch seine Stücke wurden nach dem Krieg wieder rezipiert, „auch wenn die
       ‚geglätteten‘ Aufführungen der Nachkriegszeit eher dem kulturellen
       Geschmack der vergangenen Nazizeit als dem wilden Geist der zwanziger Jahre
       entsprachen“, schreibt Klaus Waller. Zur letzten Lebensstation des
       Komponisten sollte Hamburg werden, wo er zunächst am Universitätsklinikum
       Eppendorf behandelt wurde.
       
       Es gehört zu den schwer zu ertragenden Realitäten der westdeutschen
       Nachkriegszeit, dass der für ihn zuständige Chefarzt eine ehemalige
       Nazigröße war. 1957 wurde Abraham aus dem Krankenhaus entlassen und konnte
       seine letzten Jahre, nach siebzehn Jahren wiedervereinigt mit seiner Frau
       Charlotte, die aus Ungarn hatte ausreisen dürfen, in einer eigenen Wohnung
       leben – allerdings wahrscheinlich die meiste Zeit, ohne zu wissen, wo er
       sich befand.
       
       Am 6. Mai 1960 starb Paul Abraham an einer Krebserkrankung. Er wurde, wie
       15 Jahre später seine Frau, auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg
       beigesetzt. Bis Berlin war er nicht mehr gekommen.
       
       13 Dec 2021
       
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       ## AUTOREN
       
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