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       # taz.de -- Christian Lindners Finanzpolitik: In der Realpolitik angekommen
       
       > Corona-Milliarden fürs Klima nutzen: Was Christian Lindner (FDP) als
       > Oppositionspolitiker ablehnte, setzt er als Finanzminister um.
       
   IMG Bild: Zieht ihm das Ministerium bald die Schuhe aus? Christian Lindner (FDP) im Bundestag am 9. 12. 2021
       
       Berlin taz | Man kann sich gut vorstellen, wie Christian Lindner als
       Oppositionspolitiker auf den Vorschlag reagiert hätte, 60 Milliarden Euro
       nicht benötigter Corona-Hilfsgelder für künftige Klimaschutzinvestitionen
       beiseitezulegen. Schließlich hatte die Große Koalition vor eineinhalb
       Jahren praktisch das Gleiche gemacht und von den zusätzlichen Krediten, die
       wegen der Coronakrise trotz Schuldenbremse ausnahmsweise zulässig waren, 28
       Milliarden Euro in den Energie- und Klimafonds geschoben, ein
       Sondervermögen des Bundes, aus dem längerfristige Klimainvestitionen
       bezahlt werden. „Die Bundesregierung verschiebt Steuergelder in
       Nebenhaushalte und Rücklagen und untergräbt damit den Grundsatz der
       Jährlichkeit“, hatte sich die FDP-Fraktion unter Lindners Vorsitz damals in
       einem Entschließungsantrag erregt. Dieses Vorgehen sei „alles andere als
       generationengerecht und nachhaltig“.
       
       Jetzt nutzt die neue Bundesregierung denselben Trick in deutlich größerem
       Ausmaß: Das Bundeskabinett verabschiedete am Montag einen
       Nachtragshaushalt, mit dem 60 Milliarden Euro nicht benötigter Coronahilfen
       in den inzwischen in Klima- und Transformationsfonds umbenannten Sondertopf
       verschoben werden; noch in dieser Woche soll der Bundestag diesen Nachtrag
       in erster Lesung beraten. Doch diesmal hat Christian Lindner keinerlei
       Einwände. Im Gegenteil: „Das ist ein Signal unserer Handlungsfähigkeit“,
       sagte er am Montag nach der Kabinettssitzung. „Und es ist Ausdruck unseres
       Gestaltungswillens.“
       
       Gleiche Fakten, gleicher Mann, gegensätzliche Einschätzung: Was auf den
       ersten Blick verwundert, ist auf den zweiten leicht zu erklären: Im Jahr
       2020 führte Lindner die zweitgrößte Oppositionsfraktion im Bundestag; 2021
       ist er als Minister verantwortlich für die Finanzen der Bundesregierung.
       Und als solcher hat er ein Problem: Um die anspruchsvollen Klimaschutzziele
       zu erreichen, muss die Bundesregierung in den nächsten Jahren Hunderte
       Milliarden Euro zusätzlich investieren. Doch im Wahlkampf hat die FDP
       Steuererhöhungen ebenso ausgeschlossen wie ein Aufweichen der
       Schuldenbremse, die die Möglichkeit des Bundes, Kredite aufzunehmen, eng
       begrenzt.
       
       Dass [1][zusätzliche Ausgaben ohne neue Einnahmen oder mehr Schulden] mit
       den einfachsten Regeln der Mathematik im Konflikt stehen, konnte dem
       Oppositionspolitiker Christian Lindner egal sein; der Finanzminister
       Lindner muss dagegen einen Haushalt vorlegen, bei dem die Zahlen am Ende
       zueinander passen. Darum haben sich mit dem Wechsel ins neue Amt nicht nur
       Tonfall und Rhetorik von Christian Lindner deutlich verändert. [2][Wie
       schon in der Coronapolitik], wo viele Positionen der FDP ebenfalls im
       Widerspruch zur Realität standen und darum kurzfristig aufgegeben werden
       mussten, hat Lindner auch bei zentralen Positionen einen schnellen Wechsel
       vollzogen.
       
       ## Elegante Lösung, die vielleicht nicht verfassungskonform ist
       
       Technisch ist die Lösung einfach: Die im Grundgesetz festgeschriebene
       Schuldenbremse erlaubt dem Bund im Normalfall, neue Schulden maximal in
       Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufzunehmen. Für das Jahr
       2021 wären das ungefähr 12 Milliarden Euro. Doch im Fall außergewöhnlicher
       Krisen kann die Schuldenbremse außer Kraft gesetzt werden. Wegen der
       finanziellen Folgen der Coronapandemie ist das in den Jahren 2020 bis 2022
       der Fall; erst 2023 muss die Schuldenbremse wieder eingehalten werden. Doch
       weil sich die Wirtschaft schneller erholt hat als erwartet, werden die 240
       Milliarden Euro, die der Bund in diesem Jahr aufnehmen darf, gar nicht in
       vollem Umfang benötigt.
       
       Statt auf einen Teil der neuen Kredite zu verzichten, widmet die Regierung
       diese jetzt um und verschiebt 60 Milliarden Euro in den Klima- und
       Transformationsfonds. Für die Ampelkoalitionäre ist das eine elegante
       Lösung, die formal an der Schuldenbremse festhält und trotzdem viel Geld
       für die Zeit zurücklegt, wenn diese wieder gilt.
       
       Doch unproblematisch ist der Plan trotzdem nicht: Denn zum einen ist
       unklar, ob das Vorgehen, auf das sich die Ampelkoalition im Grundsatz schon
       in den Koalitionsverhandlungen verständigt hatte, verfassungskonform ist.
       In Hessen war die Einrichtung eines Corona-Sondervermögens vom
       Staatsgerichtshof kürzlich für unzulässig erklärt worden. Auch der
       Bundesrechnungshof hat rechtliche Zweifel am geplanten Vorgehen angemeldet.
       Der neue Regierungssprecher, Steffen Hebestreit, wies derartige Stimmen am
       Montag zurück, ohne aber im Detail auf die möglichen rechtlichen Probleme
       einzugehen. „Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien halten
       dieses Vorgehen für völlig verfassungskonform“, sagte er lediglich.
       
       Um dem Eindruck einer Zweckentfremdung der Coronahilfegelder für den
       Klimaschutz entgegenzuwirken, betonte der neue Finanzminister am Montag,
       dass ein enger Zusammenhang zwischen den beiden Ausgaben bestehe. „Wir
       sehen, dass es aufgrund der Pandemie eine geringere Investitionstätigkeit
       gibt“, sagte Lindner. Und darauf solle nun durch zusätzliche staatliche
       Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen reagiert werden, unter anderem in die
       Wasserstoffwirtschaft. Wann genau die jetzt geparkten Gelder ausgegeben
       werden sollen, blieb aber offen.
       
       Zum anderen droht Gegenwind von der Opposition. Denn CDU und CSU wollen aus
       Lindners Sinneswandel politisches Kapital schlagen – und haben dazu
       ebenfalls eine Kehrtwende vollzogen, allerdings genau in die umgekehrte
       Richtung: „Der Plan von Christian Lindner, 60 Milliarden für die
       Finanzierung teurer Wahlversprechen abzuzweigen, ist skandalös und
       verfassungsrechtlich bedenklich“, schrieb CSU-Generalsekretär Markus Blume
       auf Twitter. Dass seine Partei genau dieses Vorgehen im Pandemiejahr 2020
       noch mitgetragen, umgesetzt und verteidigt hat, hat Blume offenbar ebenso
       schnell vergessen wie Lindner seine bisherige Ablehnung eines solchen
       Vorgehens.
       
       13 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Malte Kreutzfeldt
       
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