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       # taz.de -- Paolo Sorrentinos Film „Die Hand Gottes“: Maradona rettet Leben
       
       > Fußball, Tod und Filmemachen: Der Spielfilm „Die Hand Gottes“ von Paolo
       > Sorrentino erzählt vom Heranwachsen des neapolitanischen Regisseurs.
       
   IMG Bild: Das Alter Ego des Regisseurs, Fabietto (Filippo Scotti, l.) mit seinen Eltern und Bruder Marchino
       
       Paolo Sorrentino gehört zu den Filmemachern, die polarisieren. Er ist eine
       der markantesten Stimmen des italienischen Kinos von heute, doch nicht alle
       mögen diese Stimme gleichermaßen. Was die einen als spielerische Haltung
       zum Medium Film schätzen, erscheint anderen als eitle Selbstbespiegelung.
       Man kann dem Regisseur aber kaum vorwerfen, dass er keine eigene
       Handschrift habe.
       
       Auch der jüngste Spielfilm Sorrentinos, [1][„Die Hand Gottes“, für den er
       bei den Filmfestspielen von Venedig den Silbernen Löwen – Großer Preis der
       Jury erhielt], bietet sich für geteilte Reaktionen an. Die Geschichte ist
       diesmal besonders persönlich, erzählt der 1970 geborene Neapolitaner doch
       von seiner Jugend in den Achtzigern, von einer Familientragödie und dem
       Entschluss, Filme zu machen. Als Alter Ego dient ihm der sechzehnjährige
       Fabietto Schisa (pubertär linkisch: Filippo Scotti). Zugleich ist der Film
       das Porträt einer schön schrecklichen Familie und eine Liebeserklärung an
       den [2][Fußballheiland Diego Maradona, der 1984 zum SSC Neapel kam] und dem
       der Verein seine bisher einzigen beiden Meistertitel verdankt.
       
       ## Die Bucht von Neapel
       
       Sorrentino beginnt jedoch mit einer für den jugendlichen Fabietto
       wichtigen Verwandten, seiner psychisch leidenden Tante Patrizia (Luisa
       Ranieri). Der Anlauf, den der Regisseur dazu in der Anfangsszene nimmt, ist
       durchaus beeindruckend. Während die Kamera über das Meer der Bucht von
       Neapel hinwegzieht, hört man im Hintergrund das Knattern eines
       Hubschraubers, dessen Perspektive das Publikum einnimmt.
       
       Der Blick geht über eine Gruppe von Schnellbooten, wenn diese die
       Wellenkämme touchieren, ist ein zischendes „Tuff, tuff, tuff“ zu hören.
       Dann schwenkt die Kamera weiter über die Bucht, bleibt an einer schwarzen
       Oldtimerlimousine auf der Küstenstraße hängen, folgt ihrer Spur.
       
       ## San Gennaro stellt sich vor
       
       Das Auto wird wenig später im Stau der Innenstadt Neapels wieder
       auftauchen, aus dem Wageninneren fällt der Blick auf eine Frau im knappen
       weißen Kleid, die auf den Bus wartet, es ist besagte Patrizia. Ein
       distinguierter älterer Herr spricht sie mit ihrem Namen an, stellt sich vor
       als San Gennaro, Januarius, der Patron Neapels. Patrizia folgt der
       Einladung des mutmaßlichen Heiligen, steigt zu ihm in den Wagen und findet
       sich wenig später in einem heruntergekommenen Palazzo wieder. Zu dessen
       optischen Reizen gehört ein riesiger am Boden liegender strahlender
       Kronleuchter. Auch ein kleiner Mönch taucht in dieser traumartigen Szene
       auf. Was davon real ist, lässt der Film offen. Der Zauber dieses
       Bilderreigens wirkt allemal.
       
       Im weiteren Verlauf geht Sorrentino realistischer, doch nicht zwangsläufig
       weniger schrill voran. Er zeigt die Verwandtschaft Fabiettos bei diversen
       Familientreffen, wie sich Onkel und Tanten einander zum Spaß Gehässigkeiten
       an den Kopf werfen, mit Ferngläsern die Ankunft einer Verwandten mit ihrem
       neuen Partner erspähen, sich über dessen körperliche Mängel amüsieren. Ein
       Gruselkabinett zum Lachen wie zum Davonlaufen.
       
       ## Begegnung der gnadenlosen Art
       
       Diese geballte Ladung auch [3][äußerlich markanter Figuren lässt sich als
       Referenz an Federico Fellini] verstehen. Der von Sorrentino verehrte
       Regisseur bekommt sogar einen Auftritt, wenn Fabiettos Bruder Marchino zu
       einem Casting für einen Fellini-Film geht. Der Zeit der Handlung nach
       könnte dies „Ginger und Fred“ gewesen sein. Während Marchino mit Fabietto
       im Vorraum umgeben von etwas halbseiden Typen auf sein Vorsprechen wartet,
       ist lediglich die Stimme Fellinis aus dem Nebenzimmer zu hören. Für
       Fabietto genügt das, um vor Ehrfurcht wie gebannt auf den geöffneten
       Türspalt zu starren, hinter dem der Maestro spricht.
       
       Sorrentino lässt in „Die Hand Gottes“ mehrere kleine Geschichten zusammen-
       oder nebeneinander her laufen, was dem Ganzen etwas Rhapsodisches gibt.
       Neben der Familie mit ihren Auffälligkeiten ist da die wiederkehrende
       Frage, ob Maradona nun nach Neapel kommt oder nicht, die taumelhafte
       Begeisterung, als dieser 1986 sein legendäres Handspiel macht, dem der Film
       seinen Titel verdankt und das für Fabiettos Schicksal bestimmend wird.
       Hinzu kommen Fabiettos erwachendes Interesse für den Film, seine ebenfalls
       erwachende Sexualität, was in einer intergenerationellen Begegnung der
       gnadenlosen Art gipfelt, die Freundschaft zu einem Zigarettenschmuggler und
       der flüchtig-knapp inszenierte tragische Tod der Eltern.
       
       Mitunter verknüpft Sorrentino das fast mechanisch, einziges Bindeglied ist
       der zunehmend egozentrische Blick Fabiettos alias Sorrentinos. Wäre das
       alles nicht in so üppigen Bildern zum Ausdruck gebracht, hätte dies
       womöglich weniger Wirkung. Von der kann man sich über den Großteil des
       Films bereitwillig gefangennehmen lassen. Bis zum Schluss, in dem der Bogen
       zum surrealen Anfang geschlagen wird.
       
       14 Dec 2021
       
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