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       # taz.de -- Dichter Chihuailaf über Chile: „Was hast du geträumt?“
       
       > Glücklich, braun zu sein: Der chilenische Literaturpreisträger Elicura
       > Chihuailaf über Dichtung, die Kultur der Mapuche und die Stichwahl in
       > Chile.
       
   IMG Bild: Elicura Chihuailaf, auf einem Wandbilds des Künstlers Danny Reveco in Valparaiso, Chile 2021
       
       taz: Herr Chihuailaf, „Berge, Seen, Vögel. Gute Worte“ – in Ihren Gedichten
       ist die Natur allgegenwärtig. Sie leben heute wieder an ihrem Geburtsort,
       in der Nähe von Cunco im Süden Chiles. Was bedeutet diese Landschaft für
       Sie und Ihre Literatur? 
       
       Elicura Chihuailaf: Für uns, die wir uns als ein Teil von ihr verstehen,
       ist die Natur fundamental. Mapuche bedeutet Menschen der Erde. Wir
       verstehen uns als Teil, nicht als Zentrum der Natur. Wir gehören zu ihr wie
       alles Belebte und Unbelebte, wie die Steine, wie der Mond oder die Sonne,
       unter deren Fluss wir leben. Für mich als Mapuche bedeutet Natur ein Ort
       der Zugehörigkeit.
       
       Wie kamen Sie zum Schreiben? 
       
       Die Poesie begegnete mir in dem Moment, als ich anfing, meinen älteren
       Geschwistern, den Unterhaltungen meiner Eltern und Großeltern zuzuhören.
       Den Erzählungen, Gesängen und Ratschlägen, die die Ältesten gaben. Und den
       wunderschönen Geschichten, die die Träume uns geben – die Möglichkeit, sich
       mit der Zukunft und der Vergangenheit zu verbinden.
       
       In Ihrer Familie gab es noch die traditionellen Zusammenkünfte in der Ruka,
       einer aus dem Holz der umliegenden Wälder gefertigten Hütte? 
       
       Das Erste, was man dort am Morgen tat, war, über die Träume zu reden. Ich
       erinnere mich an meine Großmutter, die mich beim Frühstück fragte
       „Pewmaymi? Chem Pewmaymi?“ – Hast du geträumt? Was hast du geträumt? Das
       war eine Einladung, sich an diese bereits fast vergessene Sprache zu
       erinnern – die Sprache der Träume.
       
       2020 erhielten Sie für Ihr in Mapudungun und Spanisch verfasstes Werk den
       Premio Nacional de Literatura de Chile. Man hat mir erzählt, dass heute
       schon die Kinder in der Grundschule Ihre Gedichte lernen. Welche Rolle
       spielt die Kultur der Mapuche in Chile? 
       
       Wie andere native Kulturen auf der Welt, wurde auch unsere negiert. In
       Chile hat sich der Staat ausgedehnt, indem er die Territorien der Mapuche
       verdrängte, um danach unsere Kultur und unser Wissen durch
       wissenschaftliche Systeme zu ersetzen. Auch wir schätzen die Wissenschaft,
       aber zu leicht vergisst man, dass auch deren Methoden aus Beobachtung
       entstanden sind. Schließlich beschäftigt den Menschen überall auf der Welt
       die Frage „Woher kommen wir und wohin gehen wir.“ Oft wird uns unterstellt
       den Fortschritt abzulehnen. Doch unsere Leute sagen: Ja, wir sind für
       Entwicklung, aber mit und nicht gegen die Natur.
       
       Überall im Wallmapu, dem Territorium der Mapuche, begegnet man der blauen
       Flagge mit dem weißen Stern. Ihr Gedichtband „Von blauen Träumen und
       Gegenträumen“ erschien kürzlich in einer dreisprachigen Ausgabe in
       Deutschland. Wofür steht diese Farbe? 
       
       Das ist etwas, das ich von meinen Großeltern, meinen Eltern und der Familie
       gelernt habe. Der Geist jeder Person kommt aus dem Unendlichen, um sich in
       einem Übergangshaus, unserem Körper, einzurichten. Der Körper wird durch
       das Herz repräsentiert. Dieses Herz ist wie ein grober Stein. Der Geist im
       Wasser der Worte kann die Bedeutung der Natur entschlüsseln. Der Geist der
       Mapuche stammt aus dem Blau des Ostens, dort wo Mond und Sonne aufgehen,
       denn deren Fluss bestimmt unser Leben. Das ist das Blau, an das wir uns
       richten, weil es unser Leben ist. Es ist wie ein gleichmäßiger Strom, den
       man bewegen muss, um das Herz, diesen rauen Stein, zu reinigen, bis er
       transparent wird und man hoffentlich Weisheit erlangt.
       
       In Valparaiso entdeckte ich Ihr Porträt auf einem Wandbild des Künstlers
       Danny Reveco. In der Menge versteckt, halten Sie ein Schild mit der
       Aufschrift „Asuma su hermosa morenidad“ (Bekenne dich zu deinem schönen
       Braunsein). Wie ist dieses Zitat von Ihnen zu verstehen? 
       
       Im chilenischen Bildungssystem, wie ich es kennengelernt habe, wurde stets
       das schöne europäische Weißsein hervorgehoben. Bildung, Gesundheit,
       Entwicklung – alles drehte sich um das europäische oder später um das
       nordamerikanische Modell. Unsere Leute aber sagen, die Erde ist ein Garten.
       Die Kulturen sind wie die Blumen in unterschiedlichen Farben. Wenn eine
       davon verschwindet, verlieren wir alle. Keiner wählt den Ort, die Zeit oder
       die Sprache, in die er oder sie hineingeboren wird. Aber man sollte seine
       Geschichte kennen, denn die einzige Möglichkeit, die Vielfalt zu
       akzeptieren, besteht darin, sich selbst zu schätzen, sein Inneres und
       Äußeres im Spiegel zu betrachten, um sagen zu können, das bin ich.
       
       Im vergangenen Jahr nahm die Verfassunggebende Versammlung unter dem
       Vorsitz der Linguistin und Angehörigen der Mapuche, Elisa Loncón, ihre
       Arbeit auf. [1][Nach den sozialen Protesten von 2019 hatte die Mehrheit der
       chilenischen Bevölkerung] für die Verfassungsänderung gestimmt. Welche
       Hoffnung verbindet sich mit diesem Vorhaben? 
       
       Ich halte mich für einen skeptischen Optimisten. Das gilt auch in Bezug auf
       das Projekt einer neuen Verfassung. Das hat weniger mit der Arbeit dieses
       Gremiums zu tun. Aber die Machthaber in Chile sprechen von einem Konflikt
       der Mapuche, den sie selber schufen. Sie reden von Frieden und von
       Gewaltfreiheit, obwohl sie es waren, die Gewalt angewendet haben. Deshalb
       werden sie auch alles unternehmen, um zu verhindern, dass dieses Projekt
       zum Erfolg führt.
       
       Wenn man durch die Region Temuco reist, wo Sie leben, fällt es schwer, die
       Karawane der Holztransporte aus Monokulturen zu übersehen. Welche
       Problematik verbindet sich mit der Forstindustrie? 
       
       Wir befinden uns hier in dem ursprünglichen Territorium der Mapuche, das
       überfallen wurde, mit allem, was dazu gehört – mit Landnahme, Repression,
       Tötung und dem Verschwinden von Personen. Solange diese historische
       Realität von der Politik nicht anerkannt wird, gibt es keine Lösung. Unsere
       Gemeinden hier im Wallmapu sind umzingelt von Tausenden Hektar großen
       Plantagen der Holzwirtschaft, die sich immer weiter ausbreiten. Und überall
       kommt es zu Konflikten mit diesen Firmen. Dort wo ich lebe, in der Nähe des
       Sees Collico, gibt es ursprüngliche Wälder, mit einer Vielfalt an Vögeln,
       Pilzen, Insekten und Pflanzen, die wir pflegen und verteidigen. Doch das
       Wasser in der Region wird immer knapper, weil die Forstindustrie auf
       brutale Weise die Ressourcen der Flüsse und Seen zur Bewässerung ihrer
       Plantagen plündert. Doch diese Folge des „Fortschritts“ wollen sie nicht
       sehen.
       
       Der verheerende Effekt des Neoliberalismus auf die Umwelt lässt sich in
       Chile besonders gut beobachten – Megabergbau, intensive Lachszucht,
       industrielle Landwirtschaft und Forstindustrie. Was könnte die Kultur der
       Mapuche zu einer Neuausrichtung der Wirtschaft und einem sozialen Wandel
       beisteuern? 
       
       Sehr viel. Ich denke, dass der Blick für eine Entwicklung im Einklang mit
       der Natur essenziell ist. Wir hätten es heute nicht mit einem Klimawandel
       zu tun. Der kommt nicht von irgendwoher, sondern er wird von
       Wirtschaftsgruppen verursacht, die ihn durch ihr Handeln produzieren –
       nicht nur hier, sondern überall auf der Welt.
       
       Am kommenden Sonntag wählt Chile in einer Stichwahl seinen zukünftigen
       Präsidenten. Zuvor war die Wahlbeteiligung niedrig, im Süden erhielt der
       rechtsextreme Kandidat José Antonio Kast zahlreiche Stimmen. Er hatte
       angekündigt, zusätzliches Militär in die Konfliktzonen im Süden zu
       schicken. Die Proteste der Mapuche bezeichnete er als Terrorismus. Was
       bedeutet dies für die Region und für das Land? 
       
       In Chile könnte es zu einem großen Rückschritt kommen. Für die Mapuche
       bedeutet es nur die Fortsetzung – wenn auch unter größerem Druck – von dem,
       was man immer schon erlebt hat. [2][Auch sogenannte progressive Regierungen
       der chilenischen Postdiktatur] haben nichts oder viel zu wenig unternommen,
       um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Während man gleichzeitig immer
       umfangreichere Flächen in den Privatbesitz einflussreicher Unternehmen
       wandern ließ. Trotz all der demokratischen Defizite, möchte ich jedoch
       gerade die Jugend in ihrem eigenen Interesse dazu aufrufen, sich zu
       mobilisieren und den existierenden Spielraum zu wählen, den eine Regierung
       der extremen Rechten nicht bieten wird.
       
       15 Dec 2021
       
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