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       # taz.de -- Spielfilm über den Monte Verità: Flucht ins Aussteigerparadies
       
       > Ein Loch in die von Männern geschriebene Geschichte bohren: Das gelingt
       > in „Monte Verità“ von Stefan Jäger, trotz mancher Künstlichkeiten.
       
   IMG Bild: Gruppenbild mit: (v. l.): Hermann Hesse, Hanna Leitner, Ida Hofmann, Otto Gross ​
       
       Schöne junge Menschen posieren vor einer Villa im Grünen für ein Foto. Die
       Sonne scheint. Die Gruppe hält still. Dann wird alles schwarz-weiß und
       friert kurz ein zu einem Standbild. Szenen wie diese kehren wieder im neuen
       Film von Stefan Jäger, der 1906 spielt und auf historischer Wirklichkeit
       basiert: Farben werden schwarz-weiß, Bewegung wird Stillstand, Euphorie
       wird zu Depression.
       
       Es ist vielleicht auch eine Metapher für das Innenleben der Protagonistin
       Hanna Leitner (Maresi Riegner), die eines Tages dorthin flieht, wo diese
       Menschen nicht nur für Fotos posieren, sondern ein alternatives, freieres,
       gesünderes Leben suchen: nach [1][Monte Verità in der Südschweiz, wo zu
       Beginn des 20. Jahrhunderts das gleichnamige Sanatorium gegründet] wurde.
       
       Auch die Wienerin Hanna kam hierher, um sich von den gesellschaftlichen
       Ketten ihres Daseins als Ehefrau einer höheren Klasse zu befreien. Ihr
       Asthma ist nur ein Vorwand, um dem autoritären Ehemann Anton zu entkommen,
       ein unsympathisches Ekel mit flamboyantem Schnauzbart, der als Fotograf
       Karriere macht, die beiden gemeinsamen Töchter schlägt und seine Ehefrau
       psychisch und irgendwann auch körperlich misshandelt.
       
       Als er Hanna eines Nachts zu vergewaltigen versucht, packt sie in einem
       unbeobachteten Moment ihre Tasche und steigt in den Nachtzug in Richtung
       des Ortes, dessen Ruf als Aussteigerparadies längst bis in die
       großbürgerlichen Kreise des damaligen Österreich-Ungarns gedrungen ist.
       
       ## Singend ums Lagerfeuer tanzen
       
       Die erste Hälfte des Films zeichnet die Wochen nach Hannas Ankunft nach.
       Wie sie sich nur langsam daran gewöhnt, zwischen Menschen zu leben, die
       nackt über Philosophie diskutieren, freie Liebe und Künste aller Art
       praktizieren oder nachts singend ums Lagerfeuer tanzen.
       
       Schon bald lernt sie von ihrem Arzt, dem historisch realen und von Max
       Hubacher burschikos gespielten [2][Otto Gross, Anarchist, Freidenker und
       Kollege von Sigmund Freud], dass für viele der Aufenthalt bereits die
       Therapie ist. In Gesprächen mit ihrer neuen Freundin, der Pianistin und
       Sanatoriums-Gründerin Ida Hofmann (Julia Jentsch), lernt sie allmählich,
       die Ordnung ihrer bisherigen Welt infrage zu stellen. Sie beginnt, ihre
       Leidenschaft auszuleben, die Anton ihr verboten hatte: fotografieren.
       
       Jäger inszeniert Hannas Emanzipation mit Rückblenden aus ihrem Alltag in
       Wien, in denen Ekel-Anton seine Ehefrau drangsaliert. Dass gerade hier
       stets zu jenen Szenen geschnitten wird, in denen sie Porträts der
       Patientinnen fotografiert, kommt einem dann doch zu sehr vor wie eine
       psychoanalytische Binsenweisheit, nach der sich das Unterdrückte immer
       irgendwie seinen Weg bahnt.
       
       Dass Hanna zudem das Foto schießt, von dem zu Beginn die Rede ist, zeigt
       Jägers Vorliebe für ein komplexes symbolisches Gerüst, das im Verlauf des
       Films jedoch zu wackeln beginnt. Für die Handlung ist es eine Art
       Sehanleitung. Hanna kommt mit ihrer neuen Aufgabe als Hausfotografin nicht
       nur sich selbst, sondern auch anderen Gästen näher, etwa dem
       [3][Schriftsteller Hermann Hesse] (Joel Basman). Ihn porträtiert sie eines
       Tages, während er sie mit Sätzen bombardiert, die seinen später
       erscheinenden Kultroman „Siddhartha“ antizipieren: „Ein Mensch, der nichts
       begehrt, kann auch nicht leiden.“
       
       ## Die Wunden der Einübung als Frau
       
       Szenen wie diese wirken stets allzu künstlich beim Versuch, den Sound des
       Aufbruchs im frühen 20. Jahrhundert zu treffen, als hätten
       Aussteiger*innen in jeder Sekunde so gesprochen. Die Rückblenden zu
       Hannas Alltag in Wien wiederum zeigen, trotz ihrer ebenso fragwürdigen
       Authentizität, warum Hanna sich in der neuen Freiheit nur sehr langsam
       erholt. Die Wunden ihrer stetigen Einübung als Frau, in diesem Fall die
       scheinbar willkürliche Verfügung des Ehemanns über die Ehefrau, sind tief.
       
       Besonders in den nicht explizit gewalttätigen Szenen, in denen Anton sie
       mit Aussagen wie „Reiß dich zusammen“ zurechtweist, findet der Film eine
       Sprache für das, was man heute als Mikroaggression bezeichnen würde – sind
       es doch besonders subtile Bemerkungen, in denen sich Sexismus und andere
       Formen von Diskriminierung im Alltag ausdrücken.
       
       In der zweiten Hälfte der schweizerisch-deutsch-österreichischen
       Koproduktion schreibt Hanna einen Brief, geplagt vom schlechten Gewissen
       gegenüber ihren Töchtern. Er endet mit dem Satz, die Gesellschaft sei noch
       nicht so weit für Menschen wie sie. Dass Orte wie das Sanatorium, heute
       würde es wohl „Safe Space“ heißen, für Frauen, aber auch LGBTQ-Personen und
       ethnische Minderheiten, bis heute wichtig sind, ist am Ende wohl die
       wichtigste Lehre, die über die historische Wirklichkeit des Films
       hinausweist.
       
       Damit gelingt „Monte Verità“, was inzwischen auch andere Kostümfilme –
       denen sonst ja eher der Ruf peinlicher Geschichtsvergessenheit anhaftet –
       schaffen, etwa [4][Céline Sciammas „Porträt einer jungen Frau in Flammen“
       (2019)]: Er bohrt ein Zeitloch in die bekanntlich von Männern geschriebene
       Geschichte und zeigt, dass #MeToo und Co kein Hype, sondern die Spitze
       eines jahrhundertealten Eisbergs sind. Er zeigt, was es heißt, in einer
       Zeit zu leben, in der bestimmte Formen der Diskriminierung, hier Sexismus,
       nicht mal einen Namen hatten – und so oft unsichtbar blieben oder still
       reproduziert wurden.
       
       16 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Philipp Rhensius
       
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