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       # taz.de -- Architekturmuseum TU München: Die Abschaffung der Obdachlosigkeit
       
       > Die Ausstellung „Who’s next?“ im Architekturmuseum München in der
       > Pinakothek der Moderne beschäftigt sich mit Obdachlosigkeit in der Stadt.
       
   IMG Bild: Erstes befristet genehmigtes Zeltlager für Obdachlose, Fulton Street, San Francisco 2020
       
       Eine in ihrer Einfachheit geradezu beschämende Rechnung, die das
       Architekturmodell der sozialen Initiative Plaza Apartments in San Francisco
       flankiert, geht so: 8.500 Dollar jährlich kostet die Unterbringung einer
       Person in einer der kleinen Wohnungen; die von der Gesellschaft
       aufzubringenden Kosten für ihre über die Maßen prekäre Existenz auf der
       Straße belaufen sich auf das Zehnfache.
       
       Um [1][Obdachlosigkeit also, dieses sich global ständig ausweitende
       Phänomen], geht es in einem mit internationaler Beteiligung angelegten
       Projekt des Architekturmuseums der Technischen Universität München. Der
       Fokus ist – naturgemäß – auf die Auswirkungen, Bedingungen und sich
       anbietende Lösungen im urbanen Raum gerichtet.
       
       Die sehenswerte, von einem instruktiven Katalog mit aspektreichen Essays
       begleitete Ausstellung „Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und Stadt“
       stellt zunächst streng faktenbasiert und bar jeder Sozialromantik, dafür
       umso eindringlicher die gesellschaftlich, juristisch, geopolitisch und
       klimaabhängig extrem unterschiedliche Situation in acht außereuropäischen
       Großstädten dar, bevor sie sich bereits bestehenden beziehungsweise
       geplanten architektonischen, auch europäischen Projekten zuwendet.
       
       ## EU Resolution zur Obdachlosigkeit
       
       Das EU-Parlament hat vor einem Jahr eine Resolution verabschiedet, der
       zufolge bis 2030 die Obdachlosigkeit in der EU abgeschafft werden soll. Ein
       hehres Ziel, das längst schon durch [2][die Charta der Vereinten Nationen
       postuliert] ist, die „jedem Menschen das Recht auf einen angemessenen
       Lebensstandard für sich und seine Familie, einschließlich Nahrung,
       Bekleidung und Wohnung“ zuschreibt.
       
       Diese Übereinkunft, diesen Gesellschaftsvertrag zu erfüllen wird zunehmend
       schwieriger, wenn nicht unmöglicher. Vor allem in Asien und Afrika
       explodieren die Einwohnerzahlen der Megacitys.
       
       [3][Housing First i]st gemäß einem in den achtziger Jahren ins Leben
       gerufenen, freilich auch von Rückschlägen betroffenen Konzept in den
       Vereinigten Staaten derzeit fast allerorten die Devise. Denn
       Obdachlosigkeit meint nicht nur ein Leben auf der Straße, sondern, was
       vielfach übersehen wird, auch ein Leben in Notunterkünften.
       
       ## Weitab von einem wohlfeilen Helfersyndrom
       
       Im Vergleich der Metropolen macht die Präsentation deutlich, dass weder
       über einen Kamm geschoren werden kann, noch Standardlösungen per se Abhilfe
       schaffen können. Allein schon die Gründe für die Obdachlosigkeit sind
       weitgehend abhängig von regionalen Gegebenheiten und Entwicklungen. Der
       Blick der Architekten nimmt das für die Ausstellung, weitab von einem
       wohlfeilen Helfersyndrom, nüchtern und mit schockierendem Befund
       anschaulich ins Visier.
       
       In Moskau, erfährt der Besucher, gab es unter kommunistischem Regime keine
       Obdachlosigkeit, das war ein Ausfluss kapitalistischer Dekadenz. Damals und
       heute wurde und wird sie schlicht ignoriert, ist natürlich in großer Zahl
       zu beklagen und traditionell seit eh und je auf private Initiativen
       angewiesen, die versuchen den Kältetod der auf den Straßen Lebenden zu
       verhindern.
       
       Ganz anders in Los Angeles, der „Hauptstadt der Obdachlosigkeit“. Hitze,
       Feuer, Wassermangel sind dort die Ursache für Leid und Tod. Hier wirft die
       allgegenwärtige Segregation ein gleißendes Licht auf die gesellschaftlichen
       Verwerfungen und ihre lebensbedrohlichen, zutiefst inhumanen Folgen.
       
       ## Allerorten steigen die Zahlen
       
       Allerorten aber steigen die Zahlen rasant an. Für São Paulo gilt zwischen
       2000 und 2019 ein Anstieg um das Dreifache. In einem Moloch mit geschätzt
       12,5 Millionen Einwohnern gedeiht alles nur Vorstellbare – unermesslicher
       Reichtum und Kriminalität, Parallelgesellschaften in riesigen Favelas, dazu
       circa 25.000 (de facto weit mehr) Obdachlose.
       
       Verstehen, Kritik und Erstellung von Wohnbaukonzepten sind in Brasilien
       integraler Teil der Architektenausbildung, trotzdem muss, wie es in einem
       Katalogbeitrag heißt, „eine Wohnungspolitik, die einfach nur Wohnungen
       bereitstellt und die Architektur damit zu einer heroischen Geste macht, die
       allein tiefgreifende gesellschaftliche Probleme bewältigt“, unverzüglich
       „Wohnungsbauprogramme aufgreifen, die Segregation und sozioökonomische
       Verwundbarkeit angehen und zu einem fachübergreifenden Ansatz beitragen“.
       
       Die landläufige Meinung die den Obdachlosen grundsätzlich
       Disziplinlosigkeit, Sucht und persönliches Versagen zuschreibt, wird sich
       wohl, so auch der Tenor der Ausstellung, nicht so schnell entkräften
       lassen. Richtig ist aber auch, dass diese Menschen, wie Soziologen und
       Sozialarbeiter bestätigen, erst durch Instabilität und Schutzlosigkeit
       krank, vor allem psychisch krank werden.
       
       ## Punkveteranen, die den Absprung versäumt haben
       
       Und wahr ist auch, dass so manche obdachlose Person (der Frauenanteil ist
       insgesamt geringer, doch sind sie die Vulnerableren auf der Straße) nicht
       mehr in sogenannt geordnete Verhältnisse zurückkehren will, zumal diese es
       oft nur vermeintlich sind. Sie fühlen sich frei, wiewohl nur vogelfrei und
       meist rigoros exponiert; sie scheren sich nicht um Akzeptanz und Regeln,
       leben ihre Straßenanarchie (manche sind tatsächlich Punkveteranen, die den
       Absprung nicht mehr geschafft haben), wollen nicht gegängelt werden.
       
       In ihrer zweiten Abteilung präsentiert die Münchner Ausstellung dann eine
       Reihe von hervorragenden Wohnmodellen, abgeschlossenen und geplanten.
       [4][Darunter das Wiener VinziRast,] das in einem vorbildlich renovierten
       Biedermeierwohnhaus inmitten der Stadt kleine Wohnungen zur gemischten
       Nutzung für Studenten und Wohnungslose installiert hat.
       
       Aber auch Großprojekte wie The Brook in der Bronx, wo 190
       Einzimmerapartments, Gemeinschaftsräume und Werkstätten Unterschlupf
       bieten. Die Tendenz zur Gettobildung lässt sich bei solchen groß angelegten
       Maßnahmen allerdings nicht von der Hand weisen.
       
       ## Kein sentimentales Rührstück
       
       Es sind sämtlich anspruchsvolle, gut durchdachte, auch anregende Entwürfe,
       mal inmitten, mal am Rand der Stadt. Natürlich benötigen Wohnsituationen
       mit derart verstörten Personen ein hohes Maß an Betreuung, wenn sie
       erfolgreich zu einer Wiedereingliederung führen sollen. Viele von ihnen
       sind ohnehin nur auf eine begrenzte Verweildauer ausgelegt. Tatsächlich
       gelingt es, wie eine Studie belegt, etwa bis zu siebzig Prozent der
       Bewohner, wieder Fuß zu fassen.
       
       Ein steiler, ein anstrengender, von Rückschlägen gezeichneter Weg für
       sämtliche Beteiligte. Und ganz sicher kein sentimentales Rührstück mit
       lieben Esoterikern und gemütlichen Aussteigern, die, wenn das Geld mal
       richtig ausgeht, ein bisschen Unterschlupf beim weltweit anerkannten
       Sozialkonzern Amazon finden, wie das in dem Poverty Porn „Nomadland“ so
       anheimelnd beschrieben wird.
       
       Sicher, etliche haben sich in ihrer Schutz- und Heimatlosigkeit ganz gut
       eingerichtet. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in
       unserer grandios, doch sehr fragil angelegten Gesellschaftsstruktur keinen
       menschenwürdigen Platz mehr finden. Es sollte uns humanitäre Pflicht und
       Ehre zugleich sein, sie zu schützen. Ideen gibt es, Geld sowieso.
       
       10 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gefluechtete-in-Libyen/!5805521
   DIR [2] https://unric.org/de/charta/
   DIR [3] /Revolution-der-Wohnungslosenhilfe/!5805697
   DIR [4] https://www.vinzirast.at/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annegret Erhard
       
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