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       # taz.de -- Nachruf auf Filmerin Helga Reidemeister: Auf den Spuren von Rudi Dutschke
       
       > Die Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister ist tot. Ihr Interesse galt
       > politischen Biografien, Berliner Arbeiterfamilien und dem Land
       > Afghanistan.
       
   IMG Bild: Trotzige Ethnologin des Alltags: die Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister
       
       Afghanistan lag Helga Reidemeister am Herzen. In den letzten Jahren ihrer
       aktiven Arbeit betreute sie als eine der renommiertesten deutschen
       Dokumentarfilmregisseurinnen zwar oft die Projekte junger Leute, die sie an
       der Filmhochschule in Ludwigsburg unterrichtete, aber immer dann, wenn ihr
       der angeschwollene Film- und Medienbetrieb hierzulande zuwider war, reiste
       sie mit dem Kameramann Lars Barthel nach Afghanistan, zeichnete die realen
       Bilder des monströsen Kriegsmülls an den Straßen des Landes auf und lernte
       Menschen am Rand kennen, die in buchstäblich vermintem Gelände nach ihren
       archaischen Gesetzen zu überleben versuchten.
       
       Vorsichtige Annäherung an eine fremd bleibende Kultur, teilnehmende
       Beobachtung anstelle der Illustrierung westlicher Diskurse über den Krieg
       in Afghanistan waren ihr Credo. In „Mein Herz sieht die Welt schwarz“
       (2009) umschrieb sie die tiefe Zuneigung einer zwangsverheirateten jungen
       Frau zu ihrem Jugendgeliebten, der kriegsversehrt und arbeitslos das
       geforderte Brautgeld für die Heirat nicht aufgebracht hatte.
       
       „Splitter Afghanistan“, ihr letzter Film, der 2015 fertig wurde, führte in
       die Welt der einzigen orthopädischen Klinik in Kabul ein, wo die durch
       Granaten und Minen Verletzten mit Prothesen zu leben lernen, im Mittelpunkt
       ein stummer Paschtunenjunge, der vom Vater kilometerweit in die überlaufene
       Klinik getragen wurde.
       
       Ein anderer, nur scheinbar gegenläufiger Zweig der dokumentarischen Arbeit
       von Helga Reidemeister waren ihre politischen Porträts. So interviewte sie
       2009 in ihrem Film „Texas Kabul“ vier internationale Aktivistinnen gegen
       die militärische Intervention der USA gegen al-Qaida.
       
       ## Von der Sozialarbeiterin zur Dokumentarfilmerin
       
       Angefangen hatte ihr Interesse an politischen Biografien schon viel früher,
       als sie in „Da nimmt die Frau die Geschicke in die Hand“ der Architektin
       und überzeugten Kommunistin Karola Bloch 1982 ein Porträt widmete, und sich
       in „Aufrecht gehen“ 1988 auf die Spuren ihres langjährigen Berliner
       Wohngemeinschaftsgenossen Rudi Dutschke machte.
       
       Geboren 1940 in Halle, studierte Helga Reidemeister nach dem Abitur in
       Düsseldorf in Berlin zunächst Bildende Kunst, wechselte dann jedoch im Zuge
       der 68er-Bewegung in die politische Basisarbeit, als sich abzeichnete, dass
       das [1][gewaltige Wohnbauprogramm des Senats im Märkischen Viertel] mehr
       soziale Probleme schuf, als es die arrogante Politik der „Umtopfung“ einer
       sozialen Schicht aus Kreuzberg und Neukölln vorausgedacht hatte.
       
       Helga Reidemeister wurde über ihr Engagement als Sozialarbeiterin erst zur
       Dokumentarfilmerin. Während ihres Studiums an der dffb in den 1970er Jahren
       gewann sie ein bis heute nachwirkendes Profil als Protagonistin des
       Berliner Arbeiterfilms. Berühmt ist das härteste ihrer Porträts von
       Berliner Arbeiterfamilien, „Von wegen Schicksal“, in dem sie den
       verzweifelten Versuch einer arbeitslosen Mutter von vier Kindern
       nachzeichnet, sich aus ihren verkorksten Verhältnissen zu lösen, auch um
       den Preis einer geballten Ladung Hass, der ihr ausgerechnet im pubertären
       Trotz ihrer Tochter entgegenschlägt.
       
       Wären noch die Berlin-Filme von Helga Reidemeister zu würdigen, „Drehort
       Berlin“ (1987) und „Lichter aus dem Hintergrund“ (1998), in denen sie vor
       und nach dem Mauerfall wie eine Seismografin dem Abschied von untergehenden
       Lebenswelten in Ost- und Westberlin nachspürte. Am Montag starb die
       trotzige Ethnologin des Alltags nach langer Krankheit in Berlin.
       
       2 Dec 2021
       
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