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       # taz.de -- Europarat gegen die Türkei: Strafverfahren in der Causa Kavala
       
       > Das Gremium leitet wegen der Haft Osman Kavalas ein
       > Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei ein. Ihr droht nun der
       > Ausschluss.
       
   IMG Bild: Seit 2017 ohne Urteil in Untersuchungshaft: Osman Kavala, undatiertes Foto
       
       Istanbul taz | In einem historischen Schritt hat der Ministerratsausschuss
       des Europarates am Donnerstag beschlossen, ein Vertragsverletzungsverfahren
       gegen die Türkei einzuleiten. Am Ende dieses Verfahrens könnte der
       Ausschluss des Landes aus der ältesten europäischen Großinstitution stehen.
       
       Der Europarat ist zwar ökonomisch und politisch weniger wichtig als die EU,
       hat aber als Hüter der europäischen Menschenrechtscharta einen hohen
       Symbolwert. Seine wichtigste Einrichtung ist der Europäische
       Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg (EGMR), der die Einhaltung der
       Menschenrechtscharta überwacht und der von allen Bürgern der Länder, die
       Mitglied im Europarat sind, angerufen werden kann.
       
       Und genau darum geht es. Die türkische Regierung weigert sich seit Jahren,
       bestimmte Urteile des EGMR, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht
       passen, umzusetzen. Konkret geht es um den [1][Fall des Kulturmäzens Osman
       Kavala], der seit nunmehr über vier Jahren ohne Urteil in Untersuchungshaft
       sitzt und dessen Freilassung der EGMR seit zwei Jahren fordert.
       
       Im Sommer hatte der zuständige Ausschuss des Ministerrates bereits
       angekündigt, der Türkei drohe ein Vertragsverletzungsverfahren, wenn sie
       Osman Kavala nicht bis spätestens zum 30. November aus der Haft entlässt.
       Bei dem letzten Prozesstermin am 26. November entschied das Gericht aber
       genau gegenteilig und befand, Kavala müsse weiterhin in U-Haft bleiben.
       
       Den einzigen anderen Fall eines angedrohten Vertragsverletzungsverfahrens
       gab es bislang gegen Aserbaidschan, ebenfalls wegen eines politischen
       Gefangenen, der ohne ersichtlichen Grund in U-Haft gehalten wurde. Die
       Justiz von Präsident Ilham Aliyev lenkte daraufhin ein und ließ den
       Betroffenen frei.
       
       ## Ausschluss mit Konsequenzen
       
       Danach sieht es in der Türkei nicht aus. Das türkische Außenministerium
       veröffentlichte am Freitag eine Erklärung, in der sie den Europarat vor der
       Einmischung in die „unabhängige Justiz“ des Landes warnt und sich außerdem
       über eine ungleiche Behandlung beklagt. Auch in anderen Ländern des
       Europarates würden Urteile des EGMR nicht umgesetzt.
       
       Ende Oktober hatte Erdoğan schon einmal gezeigt, dass er Kavala auf keinen
       Fall freilassen will. Als zehn westliche Botschafter ihn öffentlich
       aufforderten, das Urteil des EGMR im Falle Kavalas umzusetzen, drohte er
       mit [2][Rauswurf aller zehn Botschafter]. Man muss deshalb davon ausgehen,
       dass Erdoğan auch jetzt bis zum Äußersten geht.
       
       Bis zum 19. Januar 2022 hat die Türkei nun Zeit, eine förmliche Erklärung
       abzugeben. Danach wird der Ministerrat den Fall erneut an den EGMR
       überweisen und dieser erneut entscheiden. Fordert der EGMR trotz der
       Einlassung der Türkei weiterhin die Freilassung Kavalas und weigert sich
       die Türkei erneut, dem nachzukommen, wird ein Ausschlussverfahren
       eingeleitet. Stimmt eine Zweidrittel-Mehrheit im Ministerrat dafür, wird
       die Türkei aus dem Europarat hinausgeworfen.
       
       Für die Türkei, die Anfang der 1950er-Jahre eines der Gründungsmitglieder
       des Europarates war, wäre das ein enormer Imageverlust. Erdoğan wäre in
       Europa quasi geächtet, was wohl auch Konsequenzen für das Verhältnis seiner
       Regierung zur EU hätte. Im Gegensatz zum Europarat, dessen Einfluss eher
       symbolisch ist, könnte eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zur EU
       massive ökonomische Folgen haben – und das in einer Situation, in der die
       Türkei in [3][großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten] steckt.
       
       Noch hat Erdoğan Zeit, einzulenken. Allerdings würde dann nach der Causa
       Kavala gleich ein weiterer Fall auf ihn zukommen: Auch für den seit fünf
       Jahren inhaftierten früheren Vorsitzenden der kurdisch-linken HDP,
       [4][Selahattin Demirtaş], fordert der EGMR seit Langem die Freilassung.
       
       3 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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