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       # taz.de -- Die Wahrheit: Bruder im Völlereigeiste
       
       > Das Fest war wieder eine einzige Fresserei. Auch in Irland. Jetzt müsste
       > es ans Abspecken gehen. Doch gibt es gute Gründe dagegen.
       
       Die Tage der Weihnachtsvöllerei sind vorbei. Es geht mir wie Max und
       Moritz, nachdem sie der Witwe Bolte die gebratenen Hühner geklaut, sie
       verspeist haben und danach vollgefressen im Gras liegen: „Und vom ganzen
       Hühnerschmaus guckt nur noch ein Bein heraus.“ Bei mir ist es allerdings
       der Truthahn. Jetzt wäre vielleicht etwas Bewegung angeraten.
       
       Voriges Weihnachten habe ich ein Fitnessarmband geschenkt bekommen. Es
       erfasst jeden Schritt, den man tut, und meldet ihn dem Handy. Allerdings
       nicht meinem Handy, sondern dem der Tochter, die mir das Armband geschenkt
       hatte. Ich wunderte mich zunächst, woher sie wusste, dass ich nach dem
       Essen nicht wie behauptet zwei Kilometer, sondern 200 Meter gelaufen war.
       
       So band ich das Armband dem Nachbarshund ans Bein, was er widerstandslos
       geschehen ließ. Es nützte aber nichts, am nächsten Tag übermittelte die
       Fußfessel lediglich 20 gelaufene Meter ans Tochterhandy. Ob der Hund
       überraschend verstorben war, fragte ich den Nachbarn. Nein, meinte er, das
       Tier leide an Arthritis und laufe nur noch von der Couch zum Futternapf und
       zurück. Ein Bruder im Geiste, dachte ich und versenkte das Armband im Meer.
       
       Vorigen Monat riet mir der Arzt in Anbetracht meines Übergewichts zu mehr
       sportlicher Betätigung, vermutlich hatte die Tochter ihn aufgehetzt. Bei
       den Herbststürmen an der irischen Westküste jagt man aber keinen Hund vor
       die Tür, was mir der Nachbarshund bestätigte. Deshalb kaufte ich ein
       sündhaft teures Laufband, bei dem man nicht nur Geschwindigkeit und
       Steigungen einstellen, sondern auch den Untergrund wählen kann: Das Gerät
       kann Tartanbahn oder Gras simulieren.
       
       Ich bin bisher allerdings nicht über einen gemächlichen Spaziergang auf
       einer glatten Wiese hinausgekommen. Es ist verdammt schwer, sich zu
       motivieren. Das liege an meinem Instinkt, verriet mir ein nützlicheres
       Geschenk als das Fitnessarmband: das Buch „Exercised – The Science of
       Physical Activity, Rest and Health“. Das Wort „Rest“ – also „Ruhepause“ –
       war mir gleich sympathisch.
       
       Der Autor Daniel E. Lieberman ist Paläoanthropologe in Harvard, er
       erforscht die Stammesgeschichte des Menschen. Wenn man in einem Kaufhaus
       vor der Wahl stehe, die Treppe oder die Rolltreppe zu benutzen, nehme man
       instinktiv die Rolltreppe, sagt Lieberman. Dieses Verhalten sei vollkommen
       natürlich, denn es ging vor langer Zeit darum, nicht unnötig Kalorien zu
       verbrennen. Man rannte nur, um eine Mahlzeit zu erlegen oder zu verhindern,
       selbst zur Mahlzeit zu werden.
       
       Man muss das Buch jedoch selektiv lesen, denn Lieberman ist
       leidenschaftlicher Marathonläufer, und weil er barfuß rennt, trägt er den
       Spitznamen „barfüßiger Professor“. Er will die Menschen eigentlich davon
       überzeugen, ihren Urinstinkt zu überwinden. Mein Urinstinkt ist aber
       unüberwindbar. Ich musste den Truthahn schließlich nicht jagen, und mich
       will auch niemand verspeisen.
       
       27 Dec 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Sotscheck
       
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