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       # taz.de -- Gründer über die Bedeutung von Radio: „Ich bin ein obsessiver Typ“
       
       > Ruben Jonas Schnell hat den Hamburger Radiosender ByteFM gegründet. Ein
       > Gespräch über Kopfhörer unter der Bettdecke, Jazzrock und die
       > Podcast-Welle.
       
   IMG Bild: „Genres sind mir inzwischen egal, ich höre alles“, sagt Ruben Jonas Schnell
       
       taz: Herr Schnell, Sie machen mittlerweile mehr als die Hälfte Ihrer 53
       Lebensjahre Radio … 
       
       Ruben Jonas Schnell: Mehr als die Hälfte meines Lebens? Das habe ich mir so
       noch nie vergegenwärtigt.
       
       Woher rührt die langjährige Leidenschaft für Ihr Medium? 
       
       Noch aus meiner Kindheit. Radio will ich eigentlich machen, seit ich 13
       Jahre alt bin. Als ich damals von der Schule nach Hause kam, sah ich meine
       Mutter meistens am Radio sitzen, Zeitung lesen und die NDR-Sendung – Ältere
       erinnern sich – „Musik für junge Leute“ hören. In einer Zeit, als auch ich
       mich langsam intensiver für Musik zu interessieren begann, brachte mir das
       die Emotionalität im [1][Radio] so nah, dass ich später den „Nachtclub“ mit
       Kopfhörer unter der Bettdecke gehört habe und so was Ähnliches auch machen
       wollte.
       
       Wie haben Sie die Liebe zum Radio aus der analogen Epoche in die digitale
       gerettet? 
       
       Das hat wohl damit zu tun, dass ich ein obsessiver Typ bin. Wenn ich mich
       geschmacklich in irgendetwas festbeiße, lasse ich nicht so schnell los und
       bleibe dem treu. Diese Loyalität meinen eigenen Entscheidungen gegenüber
       ist vermutlich Teil meines Charakters. Als Teenager war ich auch fasziniert
       vom Fernsehen, hatte ihm aber nie die gleiche Bedeutung beigemessen wie dem
       Radio und deshalb auch keinen Fernseher, als ich von zuhause ausgezogen
       bin.
       
       Bis heute? 
       
       Bis heute.
       
       Weil Sie so ein akustischer Typ sind, dem das Visuelle weniger wichtig ist? 
       
       Eher, weil mir Musik so wichtig war und ist. Obwohl ich mich für visuelle
       Medien oder bildende Kunst interessiere, gibt Radio mir bis heute alles,
       was ich brauche. Neben der Vermittlung von Inhalten bietet es die
       Möglichkeit, sich zum Erzählten Gesichter vorzustellen, ohne sich ablenken
       zu lassen. Diese Fokussierung bedeutet mir, verglichen mit Film und
       Fernsehen, am meisten.
       
       Profitiert der von Ihnen gegründete [2][Sender ByteFM] von der
       Podcast-Welle – der neuen Sucht nach gehörtem statt gezeigtem Text? 
       
       Mittlerweile sind [3][Podcasts] ein flächendeckend genutztes Informations-
       und Unterhaltungsmedium. Wir bieten mit ByteFM drei Podcasts in Kooperation
       mit dem Reeperbahn-Festival, den Deichtorhallen und dem Frankfurter Städel
       Museum an. Aber auf unser Hauptprogramm hat das kaum Auswirkungen. Ich habe
       nichts dagegen, dass es auch bei uns Formate mit höherem Wortanteil gibt,
       aber wir bleiben ein musikjournalistisches Radio. Wenn man es gut machen
       will, gilt: je höher der Wortanteil, desto aufwendiger die Produktion.
       
       Inwiefern? 
       
       Eine Sendung über 60 und mehr Minuten so auszugestalten, dass die Leute
       dranbleiben, erfordert enorm viel Vorarbeit und Konzentration. Nur wegen
       der Podcast-Welle mehr Redeanteil ins Programm zu nehmen, würde am Ende zur
       Laberei führen. Für mich war ohnehin immer klar, dass zu meiner Art von
       Radio immer die Musik gehört.
       
       Ihre Art Radio war bis zur Gründung von ByteFM vor 14 Jahren noch ziemlich
       analog. Jetzt haben Sie eine UKW-Frequenz beantragt. Hat das auch mit
       Nostalgie zu tun? 
       
       Wir senden ab Januar sogar auf zwei Frequenzen, aber das hat keine
       nostalgischen, sondern ganz pragmatische Gründe: Wenn wir auf UKW zu
       empfangen sind, bespielen wir in und um Hamburg 180 Kilometer Autobahn, und
       wenn uns auch nur ein paar Prozent der Leute gut finden, die morgens zur
       Arbeit fahren, wird unsere Hörer*innenschaft schlagartig größer.
       Außerdem stellt es für viele eine Aufwertung unserer Arbeit dar, dass
       ByteFM künftig nicht nur im Netz sendet, sondern „in echt“.
       
       Also haptisch erlebbar wie früher? 
       
       Obwohl man [4][Radio] nicht anfassen kann, mag ich den Vergleich. Auch im
       Web war das Programm von ByteFM immer traditionelles, lineares Radio, bei
       dem sich die Hörer*innen in derselben Zeitzone befinden wie die
       Moderator*innen. Das hat beinahe was Romantisches.
       
       Wird es auch inhaltlich etwas ändern? 
       
       Nur insofern, als wir von sieben bis neun Uhr ein kulturelles Stadtmagazin
       anbieten, das sich gezielt an Hamburger*innen wendet, mit
       Gesprächspartner*innen aus dem kulturellen Leben unserer Stadt.
       Außerdem gibt es ab Januar auf UKW Kulturnachrichten aus Hamburg im
       Anschluss an die Deutschland-Nachrichten.
       
       Kann es da Zufall sein, dass der NDR Ihren Rahmenvertrag ausgerechnet dann
       kündigt, als Sie ihm mit diesem Stadtmagazin zur besten Radio-Zeit
       Konkurrenz machen? 
       
       (lacht) Also… der NDR stellt sein Programm gerade um und verzichtet im Zuge
       seiner Sparmaßnahmen dabei auch auf Autor*innen. Ich habe auch schon
       gehört, dass meine Kündigung mit der UKW-Lizenz von ByteFM zu tun haben
       könnte, aber das ist Geraune.
       
       Sie gehen im Frieden auseinander? 
       
       Absolut, ich bin dankbar für die lange Zeit beim NDR. Ohne diese
       Erfahrungen hätte ich ByteFM wohl nicht machen können. Mittlerweile ist der
       Arbeitsaufwand aber ohnehin so gewachsen, dass ich anderes Radio nicht mehr
       schaffen würde. Perfektes Timing also, ich bin total happy.
       
       Vom Geschäftsführergehalt eines Online-Radios mit UKW-Welle kann man leben? 
       
       Ja, auch wenn das Gehalt klein ist. Aber wir alle hier haben viele Jahre
       unentgeltlich für ByteFM gearbeitet, auch ich.
       
       Gab es 1990, als Sie bei Radio Dreyeckland in Freiburg mit dem Radiomachen
       angefangen haben, schon Geld? 
       
       Nein. Jedenfalls nicht für Moderator*innen. Aber darum ging es auch nicht.
       ByteFM haben wir ebenfalls nicht gestartet, um Geld zu verdienen, sondern
       um den Traum vom guten musik-journalistischen Radio umzusetzen. Dass
       inzwischen neun Mitarbeiter*innen festangestellt tätig sind, hätten
       wir 2008 nicht zu hoffen gewagt.
       
       Radio Dreyeckland war explizit politisches Radio – hat es sie
       mitpolitisiert oder sind Sie damals dorthin gegangen, weil es Ihrer
       Politisierung entsprach und Sie es durch die Mitarbeit unterstützen
       wollten? 
       
       Ich wünschte, jetzt sagen zu können, damals schon total politisiert gewesen
       zu sein. War aber nicht so. Ich wollte Radio machen. Dass Radio Dreyeckland
       in der Anti-AKW-Bewegung entstanden ist, fand ich weniger wichtig als die
       Möglichkeit, Musiksendungen nach meinem Geschmack machen zu können. Meine
       politische Haltung passte zwar zu dem, wofür der Sender stand. Das hat sich
       aber nicht bewusst auf meine Arbeit ausgewirkt.
       
       Ist Musikradio tendenziell unpolitisch? 
       
       Nee, im Gegenteil. Von der Songauswahl bis zur Moderation kann alles
       politisch sein, aber dann ist das eben weniger direkt, eher hintergründig.
       
       Wie ist eine Sendung, etwa über schottischen Jazzrock, politisch? 
       
       Allein schon, sich eine Stunde lang mit schottischem Jazzrock, den Menschen
       dahinter, ihrem sozialen Umfeld zu beschäftigen, setzt ein
       kulturpolitisches Verständnis für die Verhältnisse voraus, das weit über
       die Musik hinausweist. Womöglich ist das sogar politischer, als sich in
       derselben Zeit mit linksradikalem Hardcore auseinanderzusetzen, der sich
       viel konkreter, also ersichtlicher positioniert. Wenn Kunst, gleich welcher
       Art, nicht nur „Ich liebe dich“ vor sich hin flötet, ist vom Gemälde bis
       zum Popsong alles potenziell politisch – schon als Kommunikationsmittel,
       das die Menschen durch seine Präsentation beeinflussen kann.
       
       Haben Sie dabei ein didaktisches Verständnis von Radio, das den Hörenden
       etwas nahe-, womöglich gar beibringen will? Um den Menschen im
       Autotune-Gewitter des Formatradios andere Blickrichtungen auf Musik zu
       eröffnen? 
       
       Obwohl auch ein Autotune-Gewitter mit Kompetenz und Liebe gemacht sein
       kann, versuche ich eine Differenzierung vorzunehmen, was darüber hinaus
       möglich ist. Im öffentlich-rechtlichen Radio sollte das sogar die Aufgabe
       sein, mit der ich mich – auch wenn ich nicht mehr dafür tätig bin – voll
       identifiziere. Dieser musikalische Bildungsauftrag bietet großes Potenzial.
       
       Haben Sie als obsessiver Radiomacher manchmal den Hang zum Missionarischen,
       um Menschen am Tresen von besserer Musik zu überzeugen? 
       
       Ich habe eine sehr klare Meinung darüber, was ich gut finde. Ich lasse aber
       jede andere Meinung gelten. Am Tresen würde ich niemanden belehren, aber
       bei ByteFM darf ich entscheiden, wer moderiert und in seinen Sendungen gute
       von schlechter Musik unterscheidet.
       
       Ist das so eine Art Richtlinienkompetenz als Geschäftsführer? 
       
       Schon. Aber es geht da um Zugang und Kompetenz und auch darum, wer Musik
       vermitteln kann, nicht um meinen Musikgeschmack.
       
       Welcher wäre das denn ungefähr? 
       
       Genres sind mir inzwischen tatsächlich egal, ich höre alles. Es muss mich
       beeindrucken oder berühren.
       
       Und bei ByteFM? 
       
       Die stumpfen Abarbeitungen der Charts hätten jedenfalls keine Chance. Und
       falls jemand noch mal den Hardcore-Punk der Siebziger analysieren möchte:
       nur zu. Besonders von einer Frau – beim Männerüberhang unserer Branche
       würde ich jede mit gleicher Kompetenz vorziehen.
       
       Sind Sie trotz dieser modernen Sicht auf Gender eigentlich Nostalgiker, mit
       Vinylsammlung und Retromobiliar? 
       
       Im Gegenteil. Obwohl ich das haptische Gefühl verstehe, ist Vinyl unwichtig
       für mich. Weil es mir schon immer egal war, wie ich Musik höre, streame ich
       sie digital. Ist am einfachsten. Aber ich empfinde Radiohören auch gar
       nicht als nostalgisch, sondern ohne viel Aufwand tagesbegleitend. Ich will
       einfach nicht die ganze Zeit wählen, was läuft, sondern lasse mich gern
       überraschen.
       
       25 Dec 2021
       
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