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       # taz.de -- Nachruf auf Klaus Wagenbach: Mann mit Profil
       
       > Anarchie, Geschichtsbewusstsein und Hedonismus: Für Klaus Wagenbach waren
       > das wichtige Begriffe. Nun ist der Verleger mit 91 Jahren gestorben.
       
   IMG Bild: Eine linke Haltung, verbunden mit sinnlicher Neugierde: Verleger Klaus Wagenbach (hier 2016)
       
       Manchmal konnte Klaus Wagenbach richtig ungehalten werden. 1977 etwa war er
       mit seinem Westberliner Verlag in eine Krise geraten und tourte deshalb
       durch die alternativen Buchhandlungen der Bundesrepublik. Auch das
       überwiegend langhaarige Publikum im Freiburger Laden Jos Fritz saß eng
       gedrängt. Und eine Bemerkung Wagenbachs wurde am Deutschen Seminar der
       Universität noch tagelang kontrovers diskutiert. Er machte sich über die
       Schriftstellerin Gisela Kraft lustig, die gerade von Westberlin nach
       Ostberlin umgezogen war, also eine richtige DDR-Bürgerin sein wollte.
       
       Ihr Argument lautete: „Ich brauche keine dreißig Käsesorten, mir genügen
       drei!“ So etwas hasste Wagenbach am meisten. Emphatisch rief er aus:
       Dreißig, fünfzig, hundert Käsesorten müssten es sein, wie in Italien! Es
       sei eine Katastrophe, Kommunismus und Sinnlichkeit für einen Gegensatz zu
       halten! Da ging ein verwirrtes Raunen durch die Menge.
       
       Eine linke Haltung, verbunden mit sinnlicher Neugierde: darin liegt
       Wagenbachs Lebensleistung, und sie ist in Deutschland höchst ungewöhnlich.
       Dabei hatte der am [1][11. Juli 1930 geborene Klaus Wagenbach ganz
       klassisch angefangen]. Fritz Hirschmann, der Hersteller bei Suhrkamp, wies
       den jungen Hilfsbuchhalter Anfang der 50er Jahre auf Franz Kafka hin, und
       das wurde für Wagenbach zu einem Schlüsselerlebnis. 1958 veröffentlichte er
       seine maßstabsetzende Biografie über Kafkas Jugend, die diesen
       Jahrhundertautor den Mystikern entriss. Wagenbachs Lieblingsfarbe wurde
       Schwarz, und er strich seine erste Studentenbude aus Begeisterung für Kafka
       ganz in dieser Farbe.
       
       Immer wieder betonte Wagenbach, wie muffig und spießig die Atmosphäre in
       den 50er Jahren war. Seine politische Radikalisierung hatte ursächlich
       etwas damit zu tun. Im Jahr 1964 trennte er sich als Lektor vom S. Fischer
       Verlag, wegen Auseinandersetzungen über die DDR, und gründete seinen
       eigenen Verlag in Westberlin.
       
       Er war allerdings keineswegs ausschließlich mit einer linken radikalen
       Gesinnung zu charakterisieren. Wagenbach hatte etwa auch mit dem Lyriker
       Paul Celan zusammengearbeitet, und es gibt einen Brief des eher
       geistesaristokratisch geprägten Celan an Gottfried Bermann Fischer,
       nachdem Klaus Wagenbach dessen Haus 1964 verlassen hatte. Celan schreibt,
       dass „mit dem Weggang Klaus Wagenbachs viel Gewonnenes in Frage gestellt
       wurde. Klaus Wagenbach besitzt etwas, das heute sehr selten anzutreffen
       ist: Profil.“
       
       ## Biermann über die Grenze geschmuggelt
       
       Der Wagenbach Verlag zeigte danach exemplarisch, dass
       gesellschaftspolitische Ambitionen nicht mit einer Hintanstellung
       ästhetischer Fragen einhergehen müssen. Seine legendären „Quarthefte“ waren
       der berühmten Reihe „Der jüngste Tag“ im Kurt Wolff Verlag nachgebildet:
       Kladden in schwarzer Pappe mit einem Titelaufkleber wie auf einem
       Schulheft – sofort wiedererkennbar.
       
       Wagenbach strebte nach dem Bau der Mauer programmatisch ein gesamtdeutsches
       Profil an und verlegte mit [2][Johannes Bobrowski einen Ausnahmelyriker aus
       der DDR]. Er schmuggelte Wolf Biermanns Manuskripte und Tonbänder über die
       Grenze nach Westberlin, brachte aber auch Ingeborg Bachmanns fulminante
       Büchnerpreisrede heraus.
       
       Man verstand sich bei Wagenbach ausdrücklich als „Verlagskollektiv“. Das
       führte in der Phase dogmatischer Verhärtungen nach 1968 zu tiefen privaten
       wie politischen Krisen. Die Auseinandersetzungen über die Verlagsstruktur
       bildeten nur eines der Probleme. Es kamen unterschiedliche Auffassungen
       über den Umgang mit der Rote-Armee-Fraktion dazu – [3][Wagenbach schätzte
       unter anderem Ulrike Meinhof als Autorin] sehr hoch ein –, und diese
       führten schließlich zur Trennung von vielen Autoren und Lektoren und zur
       Gründung des konkurrierenden Rotbuch Verlags.
       
       ## Im Geist des französischen Citoyen
       
       Wagenbach hat seinen Verlag ab Ende der siebziger Jahre langsam wieder
       konsolidiert und nannte programmatisch drei Begriffe, die seine Absichten
       immer bezeichnet hätten: „Anarchie, Geschichtsbewusstsein, Hedonismus.“ Und
       er fügte hinzu, dass dies nicht traditionell „linke“ Kategorien seien,
       „sondern zum Teil bürgerliche, was damit zusammenhängt, dass die deutsche
       Linke – im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern Europas – deswegen nicht
       auf begrenzte Bündnisse mit einem radikal liberalen oder konservativen
       Bürgertum zählen kann, weil es so gut wie nicht existent ist“.
       
       Wagenbach stand immer für ein Bürgertum im Geist des französischen Citoyen,
       dessen Parolen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ er nicht müde
       wurde einzufordern – und gleichzeitig für literarischen Spürsinn und eine
       enorme ästhetische Bandbreite.
       
       Im Jahr 1978 schließlich, mitten in die Kakophonie der bundesdeutschen
       Linken und der Katerstimmung des Deutschen Herbstes, gelang Wagenbach mit
       [4][Pier Paolo Pasolinis „Freibeuterschriften“] ein Paukenschlag. Damit
       leitete er einen Rhythmuswechsel ein. Nicht zufällig wurde kurz danach die
       Partei Die Grünen gegründet: Die deutsche intellektuelle Linke konnte jetzt
       daran anschließen, was Pasolini bereits Ende der sechziger Jahre
       thematisiert hatte, nämlich die Zerstörung der Identität durch Konsumismus.
       
       Engagement und Lebenslust, selbst in den Niederungen des Literaturbetriebs:
       das machte Wagenbach aus. Zur Tagung der Gruppe 47 in Princeton, USA,
       reiste Wagenbach 1966 wegen Flugangst mit dem Schiff, zusammen mit dem
       Ehepaar Grass: „Grass fuhr erste Klasse, ich dritte, in der zweiten trafen
       wir uns zum Skatspielen.“ Wagenbach ist der beste deutsche Beweis dafür,
       dass politisches Bewusstsein und Humor sich nicht von vornherein
       ausschließen müssen. Jetzt ist er im Alter von 91 Jahren nach langer
       schwerer Krankheit in Berlin gestorben.
       
       20 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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   DIR Helmut Böttiger
       
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