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       # taz.de -- Niedrige Impfquote in Rosenheim: Hier gibt's koa Pandemie
       
       > Markus Reum pflegt im bayerischen Rosenheim Covidpatienten. Er hat
       > Menschen erlebt, die noch schwer erkrankt die Coronapandemie leugnen.
       
   IMG Bild: Hilferuf: Ende November schalten die Pflegekräfte beim Schichtwechsel die Beleuchtung kurz auf rot
       
       Rosenheim taz | Markus Reum kann sich noch gut erinnern. Es war ziemlich am
       Anfang der Pandemie und er befand sich in dem Glauben, man könne doch mit
       allen Menschen reden. An einem Samstag war er mit seinen beiden Kindern in
       der Rosenheimer Innenstadt beim Einkaufen, als er an einer dieser
       wöchentlichen Demonstrationen vorbeikam, Coronaleugner, Querdenker,
       Impfgegner, so genau weiß er es auch nicht mehr, jedenfalls waren sie
       dagegen. Gegen den vermeintlichen Mainstream, der sich in blindem Vertrauen
       in die Regierenden und die von ihnen kontrollierte Presse für deren
       Experimente einspannen lässt. Gegen Bill Gates, gegen Angela Merkel. Das
       Übliche halt.
       
       Reum setzte seine Kinder schnell ins Auto und ging noch mal zurück. „Ich
       hatte damals noch so viel Motivation, dass ich das Gespräch gesucht habe.“
       Umsonst. „Ich bin auf so viel aggressive Gegenwehr gestoßen. Die haben mich
       gar nicht wirklich zu Wort kommen lassen, sondern mehr oder weniger
       ausgelacht.“ Eine neue Situation für Reum. Er halte sich ja schon für
       ziemlich weltoffen, aber die Ansichten dieser Menschen seien so völlig
       konträr zu seinen gewesen – und sie hätten so gar keine
       Gesprächsbereitschaft gezeigt. „Das war schon ein bleibendes Erlebnis.“
       
       Nun ist Markus Reum keiner, der nicht wüsste, wovon er redet, wenn es um
       die Gefahr geht, die von Corona ausgeht. Was in Rosenheim los ist –
       pandemisch gesehen – bekommt er Tag für Tag hautnah mit. Reum ist
       Krankenpfleger, arbeitet seit 2003 am [1][Klinikum in Rosenheim], dem
       größten Krankenhaus im regionalen Klinikverbund RoMed, seit zwei Jahren ist
       er Stationsleiter auf der internistischen Intensivstation.
       
       Seit dieser Begegnung in der Innenstadt, so erzählt Reum, habe er für sich
       entschieden: Auf solche Diskussionen wird er sich nicht mehr einlassen.
       Mögen sie doch reden und denken, was sie wollen, mit Argumenten seien diese
       Menschen ohnehin nicht mehr zu erreichen. Davon ist Reum mittlerweile
       überzeugt. Seine Lebenszeit ist ihm für solche Auseinandersetzungen zu
       wertvoll. Und seine Nerven sind an anderer Stelle gefragt.
       
       ## Arbeit auf der Intensivstation
       
       41 Jahre ist der gebürtige Chemnitzer alt, groß gewachsen, Glatze, Ohrring,
       hinter der Maske macht sich ein blonder Vollbart bemerkbar. Reum sitzt in
       einem Konferenzsaal im Verwaltungsgebäude des Klinikums. Ein langgezogener
       Konferenztisch zu Füßen eines riesigen Bildschirms. Hier lässt es sich mit
       ausreichend Abstand sitzen. Reum hat sich an diesem Vormittag kurz mal aus
       der Station abgeseilt, er trägt die blaue Klinikkleidung. Die
       Sieben-Tage-Inzidenz der Stadt liegt an diesem Tag bei 483, Tendenz
       fallend. Es ist noch nicht lange her, da lagen Stadt und Landkreis
       Rosenheim noch deutlich über 1.000 und standen gemeinsam mit ein paar
       anderen Landkreisen an der unrühmlichen Spitze der Corona-Hitliste.
       
       Momentan liegen drüben auf Reums Station sechs Coronapatienten, eine Etage
       drüber in der operativen Intensivstation sind es noch einmal so viele, im
       gesamten Haus werden derzeit 47 Covidpatientinnen und -patienten behandelt.
       Natürlich sind darunter auch Impfdurchbrüche, doch der Großteil von ihnen
       ist ungeimpft; genaue Angaben hierzu macht das Klinikum nicht.
       
       Auf der RoMed-Facebook-Seite versucht man, etwas Adventsstimmung zu
       versprühen, etwas Normalität. Einen schönen Advent wünscht man den
       Leserinnen und Lesern, gibt sich betont locker. „Habt ihr schon eure
       Stiefel geputzt?“, heißt es in einem Beitrag zuvor: „Wer vom Nikolaus heute
       ein kleines Geschenk oder Süßigkeiten haben möchte, der war dieses Jahr
       hoffentlich auch schön brav. Nicht, dass der Kramperl noch die Rute zückt
       …“ Doch natürlich ist der Kramperl – sprich: der Krampus, dieser im
       Alpenraum gefürchtete Begleiter des Nikolaus – aktuell die kleinste Sorge
       der hier Beschäftigten.
       
       Die Belastung für das Personal ist enorm. „Man steht im Dauerfeuer“,
       erzählt Markus Reum. „Wie es jetzt in den letzten zwei Jahren gelaufen ist,
       das nagt einfach an uns allen.“ Es fange ja schon bei der Hygiene an. Etwa
       die Hälfte der internistischen Intensivstation ist Covid-Bereich,
       gewissermaßen ein hygienischer Hochsicherheitstrakt. Wer hier arbeitet,
       muss sich erst in die entsprechende Montur werfen. Ganzkörperanzug mit
       Kapuze, Handschuhe, in der Regel zwei übereinander, dazu die wenig
       atmungsfreundliche FFP3-Maske und darüber das Visier. „Da stehst du in
       deinem eigenen Schweiß und hast Durst, kannst schlecht atmen und pflegst
       Patienten. Das ist körperlich schon extrem beanspruchend.“
       
       ## Acht Stunden ohne Wasser und Toilettengang
       
       Denn bis auf eine kurze Pause verbringt das Pflegepersonal die gesamte
       knapp achtstündige Schicht im Covid-Bereich und in dieser Kleidung. „Ich
       bin da drin gefangen“, sagt Reum. Mal kurz auf die Toilette? Fehlanzeige.
       Einen Schluck Wasser trinken? Ist nicht. Mal kurz am offenen Fenster die
       Maske abnehmen und tief durchatmen? Keine Chance. „Wir haben schon auch
       Kollegen gehabt, die dann kollabiert sind.“ Selbst ein kleiner Juckreiz
       kann zur Tortur werden, wenn man weiß, dass es noch Stunden dauert, bis man
       sich hinterm Ohr kratzen kann.
       
       Und dazu kommt die Belastung durch die eigentliche Arbeit. Zu Beginn der
       vierten Welle wussten sie zum Teil nicht mehr, wohin mit den Kranken.
       Operationen, sofern nicht akut und unbedingt notwendig, waren ohnehin alle
       abgesagt, sind es bis heute. Patienten wurden verlegt, weil für sie einfach
       kein Platz mehr da war. Sie kamen dann in andere Krankenhäuser in der
       Region, aber auch nach Lübeck wurden sie ausgeflogen.
       
       Ende November sandte man dann aus den Intensivstationen in Rosenheim einen
       Hilferuf: Abends zum Schichtwechsel schalteten die Pflegekräfte die
       LED-Beleuchtung in den Zimmern der Stationen für ein paar Minuten auf Rot.
       Wer unten auf der Straße vorbeiging, dem bot sich ein beeindruckendes Bild.
       „Wir wollten damit zeigen: Auch wenn die Krankenhaus-Ampel auf Grün steht,
       bei uns ist sie gefühlt auf Rot“, erklärt Markus Reum.
       
       Und er selbst? Ist er bereits am Limit? „Ich weiß ehrlich gesagt nicht so
       genau, wo mein Limit ist. Aber ich weiß, dass es Phasen gab, in denen sich
       80 Prozent meiner Gedanken um die Arbeit gedreht haben und in denen ich
       viele andere Dinge habe schleifen lassen.“ Ein Fernstudium hatte Markus
       Reum vor Corona begonnen. BWL. Das hat er bald abgebrochen. Auch für die
       Familie würde er sich mehr Zeit wünschen. Immerhin: Erklären muss er zu
       Hause nichts. Seine Frau arbeitet selbst als Krankenschwester, kennt die
       Situation. Dass sie das letzte Mal so richtig loslassen, entspannen
       konnten, ist schon eine ganze Weile her. Markus Reum weiß noch genau, wann
       das war: im Juni. Da haben sie am Gardasee Urlaub gemacht.
       
       Inzwischen fällt die Inzidenz. Mit entsprechender Verzögerung bemerkt Reum
       seit ein, zwei Tagen auch eine leichte Entspannung auf seiner Station.
       Aktuell sind sogar zwei Betten im Covid-Bereich frei. Doch über
       Weihnachten, befürchtet der Pfleger, könnten die Zahlen wieder ansteigen –
       erst die Inzidenz, dann – zwei, drei Wochen später – die der belegten
       Intensivbetten. [2][Omikron] wird die Station füllen. Und mit der
       Befürchtung ist er nicht allein. Im Nachbarlandkreis Miesbach hat das
       Landratsamt vorsorglich eine Leichensammelstelle eingerichtet, um notfalls
       Krematorien und Bestattungsinstitute zu entlasten.
       
       ## 60 Prozent Geimpfte
       
       Die hohe Sieben-Tage-Inzidenz im Süden Bayerns korreliert direkt mit einer
       anderen Zahl – der der Ungeimpften. Nur rund 60 Prozent der Bevölkerung in
       der Region Rosenheim sind laut Wolfgang Hierl, dem Leiter des
       Gesundheitsamts Rosenheim, geimpft. Und die wöchentlichen Zuwächse seien
       minimal, klagte er vor wenigen Tagen im [3][Oberbayerischen Volksblatt].
       „Das ist für einen nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen viel
       zu gering.“ Weiterhin steckten sich täglich bis zu 450 Menschen mit dem
       Virus an.
       
       60 Prozent. Das ist nicht viel, der Bundesdurchschnitt liegt bei 70, in
       Bremen sind es sogar über 80 Prozent. Bleibt also immer wieder die Frage:
       Warum? Warum verweigern sich just hier so viele Menschen dem schützenden
       Vakzin? Warum flog jüngst ausgerechnet auf einem Bauernhof keine zehn
       Kilometer nördlich von Rosenheim eine illegale Schule auf, die dem
       Querdenker-Milieu zugeordnet wird?
       
       [4][Michael Blume] hätte da eine Antwort: Die Berge sind schuld. Okay,
       Blume formuliert es nicht ganz so schlicht. Er sagt stattdessen: „In
       Gebirgsregionen organisieren sich Menschen über ihre jeweiligen Sprachen
       selbst. Sie werden skeptisch gegenüber Obrigkeiten und Wissenschaften, und
       das ist eine sehr positive Sache, die aber leider oft auch umschlagen kann
       in Verschwörungsglauben.“
       
       ## Die Bergbewohner und die Pandemie
       
       Die „Alpenraum-Medien-These“ nennt sich der Ansatz, ein ganzes Seminar am
       Karlsruher Institut für Technologie bestreitet der Politik- und
       Religionswissenschaftler mit dem Thema. Die Berge – oder vielleicht sollte
       man eher sagen: die Täler – haben demzufolge die Kommunikation der Menschen
       über Jahrtausende nach innen fokussiert. „Das heißt“, erklärt Blume am
       Telefon, „die Leute haben sich auf der Basis von Sprache selbst organisiert
       und verwaltet und dabei ein föderales, aber eben nicht unbedingt liberales
       Gesellschaftsverständnis entwickelt.“
       
       Nirgends auf der Welt seien staatliche Einheiten so klein wie im
       [5][Alpenraum], wo 80 Millionen Menschen in 48 Regionen, Bundesländern und
       Kantonen mit eigenen Parlamenten lebten. „Das sind natürlich, wenn wir das
       Erzgebirge noch dazunehmen, genau die Regionen, wo wir heute auf die
       niedrigen Impfquoten kommen.“
       
       In dem sehr eigenen Gesellschaftsverständnis dieser Regionen sieht Blume
       die Skepsis gegenüber den Vorschriften, die von außen kommen, begründet.
       „Da kommt hier die Staatlichkeit mit ihren Gesetzen, dort die Wissenschaft
       mit ihren Ansprüchen, die Medizin. Und jetzt auch noch die
       Hauptstadtpresse.“ Die prompte Reaktion: Wir lassen uns von denen doch
       nichts vorschreiben.
       
       Für Michael Blume, der auch Antisemitismus-Beauftragter des Landes
       Baden-Württemberg ist, erklärt die These eine ganze Reihe von Phänomen, die
       im Alpenraum eine besondere Ausprägung erfahren haben und die sich jetzt in
       einer Melange mit Querdenkertum, kruden Verschwörungstheorien und
       Impfablehnung wiederfinden: Naturromantik, Esoterik, Anthroposophie bis hin
       zu rechtsradikalem und antisemitischem Gedankengut.
       
       So gehört der [6][Austrofaschismus] ebenso dazu wie die Kinderromanfigur
       Heidi, deren Mythos Michael Blume besonders bezeichnend findet: „Auf den
       Bergen ist die Gesundheit, und nicht nur Heidi, die mit der Natur eng
       verbunden ist, wird dort ganz gesund, sondern auch die Romanfigur Klara
       Sesemann, die in Frankfurt noch an den Rollstuhl gefesselt ist und von
       Schulmedizinern erfolglos behandelt wird, lernt dort wieder zu laufen.“
       Etwas Bergluft, mehr braucht es nicht, die Natur wird’s schon richten.
       Ansichten, denen auch Impfgegner nachhängen.
       
       Klingt natürlich hart. Als seien die Bewohner des Alpenraums allesamt etwas
       zurückgebliebene Bergbewohner, die noch nie den Blick über den eigenen
       Talrand gewagt hätten. Aber genau das wäre eine Interpretation – Blume
       nennt sie die „Hinterwäldlerthese“ –, gegen die sich der Wissenschaftler
       ausdrücklich verwahrt. „Es geht nicht darum, dass die Leute rückständig
       wären oder nichts mitbekommen von der Welt. Im Gegenteil: Sie sind Händler.
       Sie haben mit der ganzen Welt zu tun. Sie bestehen jedoch auf föderale
       Selbstverwaltung, das kann eine sehr liberale Ausprägung haben. Daneben
       gibt es aber leider auch ganz starke verschwörungsmythologische
       Strömungen.“ Kurz: Auf den Bergen wohnt die Freiheit, wie der Bayer singt.
       Aber eben auch der Wahnsinn.
       
       So habe er festgestellt, erzählt Blume, dass allein die Tatsache, dass der
       Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité komme und Hochdeutsch
       spreche, es schwierig mache, mit seiner Expertise zu vielen Leuten in den
       Gebirgsregionen durchzudringen. „Da heißt es dann, die aus der Hauptstadt,
       die wollen uns jetzt auch noch vorschreiben, wie unser Immunsystem
       funktioniert.“ Monatelang habe dann im Ranking der Suchanfragen „Christian
       Drosten Jude“ weit oben gestanden. Was wiederum zur jüngsten
       Pressemitteilung der [7][Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus
       Bayern] passt, die allein in den ersten beiden Dezemberwochen 15
       antisemitische Vorfälle mit Coronabezug gezählt hat.
       
       ## Jeden Mittwoch demonstrieren die Impfgegner
       
       Würde Krankenpfleger Markus Reum jetzt aufstehen, das Zimmer verlassen, den
       Gang des Verwaltungsgebäudes bis zum Ende gehen, zur Tür raus und einmal
       kurz um die Ecke, stünde er auf dem Rosenheimer Ichikawa-Platz. Keine halbe
       Minute bräuchte er dazu. Die Sonne kämpft sich hier gerade durch den Nebel,
       wirft ihre Strahlen auf die kargen Silhouetten der Kirschbäume, die auf dem
       ansonsten gepflasterten Platz gepflanzt wurden und die längst ihr Laub
       haben fallen lassen. Ein Mann kreuzt mit seinem Hund den Platz, sonst ist
       hier an diesem Morgen nichts los.
       
       Es ist ein Platz der Freundschaft, benannt nach der japanischen
       Partnerstadt von Rosenheim. Seit Wochen ist es allerdings vor allem der
       Platz der Querdenker und Impfgegner. Jeden Mittwochabend treffen sie sich
       hier, mitunter zu Hunderten, und demonstrieren gegen ihre Feindbilder – die
       Politik, die Medizin, die „Lügenpresse“.
       
       Als er das erste Mal auf dem Heimweg von der Arbeit an der sogenannten
       Mahnwache vorbeigefahren sei, sei er schon ziemlich erschrocken, erzählt
       Reum. Wie diese Menschen da im Dunkeln mit ihren Fackeln gestanden hätten,
       das habe schon etwas einen Ku-Klux-Klan-Charakter gehabt und auf den ersten
       Blick sehr beängstigend gewirkt. Gleichzeitig macht ihn die Veranstaltung
       allerdings auch wütend. „Am liebsten“, sagt er, „würde man da schon mal
       einen packen, auf die Station mitnehmen und sagen: ‚Schau’s dir an!‘ Geht
       halt nicht.“
       
       Geht nicht. Und bliebe vielleicht auch ohne Wirkung. Denn es gibt sie ja,
       die Impfgegner, die sich die Intensivstation von innen ansehen – als
       Covidpatienten. Manche von ihnen hätten zwar nach ihrer Genesung eine neue
       Sicht auf die Dinge, doch das sei keineswegs der Normalfall. Gerade zu
       Beginn der vierten Welle, erzählt Reum, seien Aggression und Mangel an
       Einsicht besonders groß gewesen. „Unsere Oberärztin kommt dann immer wieder
       kopfschüttelnd aus den Krankenzimmern und sagt: Ich weiß gar nicht mehr,
       was ich denen noch erzählen soll, die glauben mir einfach nicht.“
       
       ## Leugnen bis kurz vor dem Tod
       
       Einmal habe ein junger, schwer erkrankter Coronapatient sogar Pflegekräfte
       bedroht und versucht, aus der Station zu flüchten. In seinem Zustand sei er
       zwar nicht weit gekommen; bevor er zusammengebrochen sei, habe er aber noch
       einem Pfleger ins Gesicht gespuckt und zwei Kolleginnen mit Tritten
       verletzt. Man kann nur mutmaßen, wie viel Professionalität nötig ist, um in
       einem solchen Fall ruhig zu bleiben. „Wir haben immer den Patienten im
       Blick“, erklärt Reum. „Da ist ein Mensch, und der braucht jetzt unsere
       Hilfe – und sei er auch noch so quer im Kopf.“
       
       Von Schwierigkeiten mit teils radikalen Impfgegnern berichtet auch der
       Rosenheimer Arzt Martin Schmid. Er hat einen Bericht über die örtlichen
       Impfbemühungen verfasst und ihn sogar als 47 Seiten starkes Büchlein
       herausgebracht. Darin beschreibt er, wie viel Mut und Kraft es erfordere,
       trotz dieses Widerstands die Impfkampagne weiter energisch voranzutreiben.
       
       ## Die weisen Aufzeichnungen des Martin Schmid
       
       Mit Martin Schmid hat es dabei eine ganz besondere Bewandtnis: Der Mann ist
       schon lange tot. Seine Zeilen brachte er vor über 200 Jahren zu Papier.
       „[8][Bericht über die Schutzpocken-Impfung im Physikatsdistrikte
       Rosenheim]“ nannte er das Bändchen. Passagenweise sind es nur die heute
       nicht mehr gebräuchlichen Wendungen oder die nicht mehr gängige
       Orthografie, die auf das Alter der Schrift hinweisen: „Diese wohlthätige
       Entdeckung“, schreibt Schmid über die damals noch neue Impfmöglichkeit
       gegen die Pocken, „theilte das Schicksal alles Neuen, das man blos darum,
       weil es neu ist, verächtlich von sich weiset; ja man wollte sogar bemerken,
       daß der Vortheil, wenn sich welcher gäbe, vom Nachtheil, der daraus
       entstünde, verschlungen werde.“
       
       Für die Gegenwehr macht er den „Geist des Volkes“ verantwortlich, „der eine
       schnelle Metamorphose selten zu ertragen pflegt“. Im Einzelnen führt er
       unter anderem folgende Hindernisse für die Impfung auf: die „Abneigung
       gegen alles, was neu ist“, den „religiösen Irrwahn, als würde der Vorsehung
       und Anordnung Gottes vorgegriffen“, den „Starrsinn der Eltern, und absurde
       Vorstellung von dem Akte des Impfens“ sowie die „Bosheit übelgesinnter
       Menschen, die die abgeschmacktesten Berichte von entstanden Unglücksfällen
       ausstreuten“. Kommt einem nicht ganz unbekannt vor.
       
       Am 26. August 1807 wurde die Pockenschutzimpfung qua königlicher Verordnung
       für Kinder ab drei Jahren verpflichtend. Bayern war damit das erste Land
       weltweit, das eine Impfpflicht einführte. „Diese königliche Verordnung“, so
       der Arzt in Rosenheim, „machte tiefen Eindruck auf die Gemüther,
       überraschte den Starrsinnigen, und überzeugte den Vernünftigen.“
       
       Eine Erfahrung, aus der man nach Ansicht von Alpenraum-Kenner Michael Blume
       durchaus lernen kann. Wer jetzt noch seinen Verschwörungstheorien
       nachhänge, dürfte rational kaum noch zu erreichen sein, meint Blume.
       Deshalb sei es jetzt angezeigt, eine Impfpflicht durchzukämpfen. „Das wird
       erst mal heftig, aber dann befriedet es auch.“
       
       Bis dahin werden sich Markus Reum und seine Kolleginnen und Kollegen wohl
       damit abfinden müssen, dass vor der Klinik Coronaleugner ihre Fackeln
       entzünden, während sie selbst drinnen versuchen, das Leben der Infizierten
       zu retten.
       
       An diesem Abend jedoch werden es andere Menschen sein, die auf den
       Ichikawa-Platz kommen. Eine Vereinigung mit dem Namen „Rückenwind
       Gesundheitspersonal“ hat zu einer Solidaritätskundgebung aufgerufen, will
       dem Protest der lautstarken Minderheit endlich etwas entgegensetzen.
       
       Markus Reum und seine Frau haben für den Abend bereits einen Babysitter
       organisiert.
       
       21 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.romed-kliniken.de/
   DIR [2] /Virologin-ueber-Omikron-Variante/!5820738
   DIR [3] https://www.ovb-online.de/
   DIR [4] /Michael-Blume-ueber-Querdenker-Demos/!5737207
   DIR [5] https://www.argealp.org/de/arge-alp/eu-alpenraumstrategie-eusalp
   DIR [6] http://www.demokratiezentrum.org/bildung/ressourcen/lexikon/austrofaschismus/
   DIR [7] https://report-antisemitism.de/rias-bayern/
   DIR [8] https://www.bavarikon.de/object/bav:BSB-MDZ-00000BSB10371307?cq=T%C3%B6rwang&p=1
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dominik Baur
       
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