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       # taz.de -- Die Wahrheit: Getrennte Betten
       
       > Die Alten werden jetzt richtig alt. Zum ersten Mal sind die Eltern
       > getrennt. Es gibt keinen Streit mehr, dafür Zärtlichkeiten.
       
       Meine Eltern sind getrennt. Hermann und Ilse. Jetzt werden alle
       Scheidungskinder rufen: „Meine auch! Schon lange!“ Aber meine wurden auf
       den letzten Metern getrennt. Beide sind angeschlagen, und mein Vater wohnt
       jetzt vorübergehend in einem Alten- und Pflegeheim. Jedenfalls hoffen wir
       alle, dass es nur vorübergehend ist.
       
       Er nimmt es mit Humor. Jedenfalls solange wir da sind. Das ist natürlich
       ein sehr netter Zug von ihm. Er ist nicht zu Hause, und das will er uns
       leicht machen. „Alt werden ist großer Mist!“, meinte meine Mutter.
       
       So wie die beiden über all die Jahrzehnte miteinander rangen und stritten,
       hätte man glauben können, sie würden sich durchaus freuen über ein wenig
       Distanz. Aber sie vermissen sich. Und was ganz neu ist: Sie küssen sich!
       Bei jedem Abschied. Ein irrer Moment. Nie zuvor sah ich meine Eltern
       irgendwelche Zärtlichkeiten oder Küsse austauschen. Ich war mir immer
       sicher: Mein Bruder und ich sind die Nummer zwei und drei weltweit, die
       unbefleckt empfangen wurden.
       
       Jetzt also Corona und Heim und Maßnahmen. Nachdem mein Vater kürzlich mit
       Lungenentzündung im Krankenhaus lag, musste meine Mutter täglich zum
       Testen, um ihren schwerkranken Mann besuchen zu können. Das fällt nun weg,
       im Heim wird „geboostert“ akzeptiert. So kommen sie schon mal leichter
       zueinander.
       
       Aber jetzt wo sie endlich kuscheln mögen, liegen sie nicht mehr im gleichen
       Bett. Verkehrte Welt! Käme er jedoch morgen nach Hause, gäbe es übermorgen
       wieder Streit. Mein Vater ist eine klassische Waage, er braucht Harmonie.
       Meine Mutter ist Wassermann. Sie verlangt Gefolgschaft. Außerdem ist mein
       Vater eher wasserscheu. Vielleicht liegt in den luftigen Sternen der Grund
       für manche Auseinandersetzung. Auch dafür, dass meine Mutter nie Fisch
       auftischte.
       
       Mein Vater hat sämtliche fiesen Krankheiten, aber er spricht nicht darüber.
       Ein echter Ostwestfale. Sie sagt auch nix, ist aber genervt, dass er nichts
       sagt. Das wiederum sagt sie auf Platt: „Hei secht nix!“ Die beiden sprechen
       untereinander ausschließlich Platt. Wenn sie überhaupt etwas sagen. Mein
       Bruder und ich sind zweisprachig aufgewachsen. Allerdings haben sie nicht
       genug geredet, dass wir es wirklich fehlerfrei könnten. Immer wieder sagt
       meine Mutter zu mir: „Kerl, kür Hochdeutsch!“
       
       Meine Eltern verlieren nie den Humor. Ich war jetzt dabei, als sein
       Hausarzt meinen Vater boosterte. Der fragte: „Welchen Arm, Hermann? Bist du
       Rechtshänder oder Linkshänder?“ – „Rechtshänder! Aber das meiste mache ich
       immer noch mit links!“
       
       Jetzt kommt Weihnachten. Das wird bitter. Wegen des Weihnachtsessens. Wir
       saßen zu dritt auf seinem Zimmer, und ich fragte: „Wie ist denn das Essen
       hier im Haus?“ – „Ilse koaket bäter.“ Und sie ergänzte: „Datt fählde no,
       datt ett di hier bätter schmecket wie to Huse!“ Kurze Pause. Dann noch mal
       sie, energisch: „Denn könnst du oaver gliecks hier bliem!“
       
       22 Dec 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Gieseking
       
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