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       # taz.de -- Verkehrswende in Berlin: Der Verwaltung in die Hacken treten
       
       > In der Hauptstadt hat sich eine schlagkräftige Mobilitätsszene
       > entwickelt, die der Politik einheizt. Doch bis Erfolge sichtbar werden,
       > dauert es.
       
   IMG Bild: Hier hat sich was geändert: neuer Fahrradweg in Berlin
       
       Berlin taz | Für kurze Zeit konnten sich Berlins unmotorisierte
       Verkehrsteilnehmer mal so richtig privilegiert fühlen: Anfang vergangener
       Woche machte die Verkehrsverwaltung des Senats überraschend eine wichtige
       [1][Brücke über die Spree dicht]. Einen Tag lang durften nur Radfahrende
       und FußgängerInnen den Fluss überqueren, während Autos auf der Suche nach
       Ausweichrouten die umliegenden Stadtteile verstopften.
       
       Aber es war keine Werbeaktion für nachhaltige Verkehrsmittel. Das marode
       Bauwerk aus DDR-Spannbeton wird sukzessive durch einen Neubau ersetzt, und
       spezielle Sensoren an einem Reststück der Brücke hatten Alarm geschlagen.
       Als klar wurde, dass es nur an der Kälte lag, durften Pkw und Laster wieder
       rollen. So schnell geht es eben nicht mit der Verkehrswende.
       
       Tatsächlich wünschen sich viele Menschen in der Hauptstadt genau das:
       radikale Maßnahmen, die den Autoverkehr aus der Stadt drängen. Derzeit
       läuft ein [2][Volksbegehren namens „Berlin autofrei“]. Der Gesetzentwurf,
       um den es geht, würde die private Pkw-Nutzung massiv einschränken. Wer das
       Auto nicht wegen einer körperlichen Einschränkung benötigt, soll es nur
       noch zwölfmal im Jahr bewegen können, etwa zum „Transport schwerer oder
       sperriger Güter“. Auf Antrag, wohlgemerkt.
       
       Käme es zum Volksentscheid, das Ergebnis wäre schwer absehbar. In Berlin
       gibt es aktuell 1,23 Millionen Pkw – einen auf drei EinwohnerInnen. Die mit
       Bus und Bahn recht gut erschlossene Metropole liegt damit zwar deutlich
       unter dem Bundesschnitt, trotzdem waren hier noch nie so viele Privatautos
       zugelassen. Wirklich unpopulär scheint das Auto nicht zu sein.
       
       ## Haarsträubende Privilegierung des Autoverkehrs
       
       Auf der anderen Seite hat sich eine schlagkräftige Mobilitätsszene
       entwickelt, die Politik und Verwaltung nicht nur in den sozialen Medien die
       Hölle heiß macht. Sie veranstaltet Demos gegen die – aus ihrer Sicht –
       haarsträubende Privilegierung des Autoverkehrs, für geschützte Radspuren
       oder Mahnwachen, die nach jedem Unfall stattfinden, der für RadlerInnen
       oder FußgängerInnen tödlich endet.
       
       Eine zentrale Rolle spielt der Verein [3][Changing Cities], der sich aus
       dem „Volksentscheid Fahrrad“ entwickelt hat – einer Initiative, die 2016 so
       viele Unterschriften sammelte, dass die damals neu gewählte rot-rot-grüne
       Koalition umgehend Gespräche über ein „Mobilitätsgesetz“ aufnahm. 2018 trat
       es in Kraft. Es soll den Anteil des „Umweltverbunds“ – also ÖPNV, Rad- und
       Fußverkehr – am Verkehrsgeschehen deutlich erhöhen. Der festgelegte
       gewaltige Aufwuchs an Fahrradinfrastruktur befriedete den Konflikt aber nur
       kurzzeitig, längst hadern die AktivistInnen gewaltig mit dem Tempo der
       Umsetzung.
       
       Neben den zwölf nach Stadtbezirk gegliederten Fahrradnetzwerken unter dem
       Dach von Changing Cities macht längst auch der Fahrradclub ADFC Druck auf
       die Politik – der Landesverband hatte lange die Füße sehr stillgehalten.
       Vor Kurzem klagte Landeschef Frank Masurat im taz-Interview, das
       Mobilitätsgesetz werde „nicht eingehalten“, besonders deutlich im Fall der
       „Vision Zero“.
       
       Das Versprechen, die Zahl der Toten oder Schwerverletzen im Straßenverkehr
       auf null zu bringen, steht explizit im Gesetz, aber, so Masurat: „Ob es
       stadtweit Tempo 30 ist oder der sofortige Umbau von gefährlichen Kreuzungen
       – alle nötigen Maßnahmen sind seit Jahrzehnten bekannt, werden aber nicht
       umgesetzt. Das ist frustrierend.“
       
       ## Zehn tote Radfahrende
       
       Tatsächlich sind 2021 bislang zehn tote Radfahrende zu beklagen, so viele
       wie in den vergangenen Jahren. Das Gesetz verspricht aber nicht nur mehr
       Sicherheit, sondern auch einen massiven Ausbau der Infrastruktur. Für
       Radfahrende soll sich mehr oder weniger alles ändern: Ihnen sichert das
       Gesetz unter anderem eigene Wege „auf oder an allen Hauptverkehrsstraßen“
       zu, „mit gut befahrbarem Belag“ und „in sicherem Abstand zu parkenden
       Kraftfahrzeugen“. Sie sollen so breit sein, dass sich zwei Fahrräder sicher
       überholen können.
       
       Allein dieser Punkt hat revolutionäre Züge in einer Stadt, die eigentlich
       genügend Platz für alle hat, in der aber jahrzehntelang das Auto Maß aller
       Dinge war, im Westen wie im Osten. Dabei wächst der Anteil der
       VelofahrerInnen am Verkehr seit 20 Jahren fast ungebrochen – allein von
       2017 bis 2020 um gut 25 Prozent. Aber: Fast nirgendwo konnten sie sicher
       und komfortabel unterwegs sein, und die Nutzung altersschwacher, schmaler
       Plattenwege, die in den 1980ern state of the art gewesen sein mochten, war
       niemand mehr zuzumuten.
       
       Im vergangenen Sommer, drei Jahre nach Verabschiedung des
       Mobilitätsgesetzes, rechnete Changing Cities vor, dass die neuen Wege
       gerade einmal an 1,4 Prozent der fast 2.800 Kilometer Hauptstraßen fertig
       waren. „Wenn es in diesem Tempo weitergeht, haben wir die vorgeschriebene
       Rad-Infrastruktur in 200 Jahren“, resümierte Sprecherin Ragnhild Sørensen
       sarkastisch.
       
       Fragte man die bisherige grüne Verkehrssenatorin [4][Regine Günther], warum
       es so langsam voranging, erklärte sie immer wieder, dass es eben dauere,
       bis eine aufs Auto fokussierte Verwaltung fahrradfreundlich umgebaut sei.
       Dutzende PlanerInnen wurden eingestellt, Organisationseinheiten gegründet,
       Regelwerke erarbeitet. Auf der Straße konnte so lange eben noch nicht allzu
       viel Sichtbares geschehen, das sollte sich nun aber ändern.
       
       ## Bettina Jarasch kann ernten
       
       Günthers Nachfolgerin und Parteifreundin Bettina Jarasch wird nun
       möglicherweise einige dieser Lorbeeren ernten. Aber mit der Verwaltung wird
       auch sie zu kämpfen haben. Gegen Ende ihrer Amtszeit stellte Günther etwa
       das lange erwartete Projekt vor, die zentrale Straße Unter den Linden
       weitgehend autofrei zu machen: Alle Planungs- und Ausführungsschritte
       eingeschlossen, soll es nun 2032 so weit sein. Zwölf Jahre für eine Straße.
       
       Es kann aber auch mal schneller gehen – wenn sich die Dinge fügen: Die
       „Pop-up-Radspuren“ etwa, die 2020 bundesweit für Gesprächsstoff sorgten,
       waren das Produkt guter Zusammenarbeit. Erst habe sie „einen sehr
       engagierten Leiter“ für das Straßenamt gefunden, sagt Monika Herrmann
       (Grüne), kürzlich aus dem Amt geschiedene Bürgermeisterin des Bezirks
       Friedrichshain-Kreuzberg – der Mann namens Felix Weisbrich glaubt fest an
       die Verkehrswende und war gerade für den taz Panter Preis nominiert. Viel
       bewegen konnte er aber auch, weil die Senatsverwaltung einen ebenso
       motivierten Abteilungsleiter einstellte. „In dieser Konstellation konnte
       dann viel auf die Straße gebracht werden“, resümiert Herrmann.
       
       Die streitbare Kreuzbergerin wurde gerade zur Sprecherin der
       Grünen-Landesarbeitsgemeinschaft Mobilität gewählt, eines Parteigremiums,
       das es der politischen Spitze selten leicht macht. Von dieser Position aus
       will Herrmann auch künftig Themen wie Verkehrsberuhigung, Schulwegsicherung
       oder Parkraumbewirtschaftung vorantreiben. Gut findet sie ausgerechnet,
       dass der Senat laut dem neuen rot-grün-roten Koalitionsvertrag mehr
       Befugnisse beim Infrastrukturausbau erhalten soll. Sie weiß, dass manch
       andere Bezirksfürsten es sich nicht so gerne mit den Autofahrenden
       verscherzen.
       
       „Wir sind immer noch ganz am Anfang“, sagt Herrmann – und hat nach eigener
       Aussage kein Problem damit, dass die AktivistInnen der Verwaltung
       ungeduldig in die Hacken treten. Für einen Erfolg der Verkehrswende brauche
       es „die Straße, die Politik und die Verwaltung“, findet sie. „Und wenn die
       Straße ruhig ist, bleibt der Handlungsdruck aus.“
       
       22 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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