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       # taz.de -- Die Wahrheit: Auf Augenhöhe mit den Alten
       
       > Die wahre Weihnachtsgeschichte: Von der superwertvollen Erfahrung, zum
       > Fest die Eltern zu besuchen und ihnen endlich näherzukommen.
       
       Man hat nur eine Eltern“, hatte Suse Beckinger in ihren fünften oder
       sechsten Glühwein philosophiert. Vielleicht hatte sie auch „Ich hasse meine
       Eltern“ gesagt. So genau hatte Bruno sie nicht verstanden, weil Suse schon
       ein wenig gelallt hatte. Aber um Eltern war es gegangen, da war Bruno
       sicher. „Die sind ja bald tot, und dann ärgert man sich“, hatte Gerald den
       Erkenntnisstand der Runde zusammengefasst. Als der Glühweinstand schloss,
       hatten alle versichert, dieses Weihnachten „unbedingt“ mit den Eltern zu
       verbringen. Die seien ja alle geboostert.
       
       Wegen dieser Unterhaltung saß Bruno nun am Heiligabend in seinem Auto und
       versuchte, sich an die Adresse seiner Eltern zu erinnern. Ein Nadelbaum mit
       der Hausnummer sieben, wusste er noch. Er gab den Ortsnamen und „Kiefernweg
       7“ ein, und das Navi beanstandete die Adresse nicht.
       
       Bruno war nicht oft in dem altersgerechten Domizil gewesen, das seine
       Eltern mittlerweile bewohnten. Außerhalb des längst verkauften Hauses
       seiner Kindheit waren sie ihm immer fremd vorgekommen. Nach dem letzten
       gemeinsamen Abendessen hatte sich Bruno eilig verabschiedet. „Die Arbeit“,
       hatte er entschuldigt. Seine Eltern hatten genickt und keine Fragen
       gestellt, was Bruno wütend gemacht hatte. Seither beschränkte sich der
       Kontakt auf gelegentliche Telefonate mit der Mutter, aber Bruno konnte sich
       nicht in Erinnerung rufen, worüber sie dabei sprachen.
       
       Außer Bruno war niemand aus der Glühweinrunde der Ankündigung gefolgt.
       „Irgendwas Gutes muss diese Scheißpandemie ja haben“, hatte Gerald gemeint
       und Bruno gestern mitgeteilt, dass alle Elternbesuche wegen der
       Omikron-Variante längst storniert oder verworfen waren. Stattdessen traf
       man sich am späten Weihnachtsabend in der Stammkneipe. Bruno fühlte sich
       betrogen.
       
       Als er den Motor anließ, beschloss er, es den Freunden heimzuzahlen. „Es
       war wirklich superschön mit meinen Eltern, eine ganz wertvolle Erfahrung“,
       nahm sich Bruno vom gemeinsamen Weihnachten zu erzählen vor, das gefühlige
       Tremolo der Suse Beckinger imitierend.
       
       Man sei einander nähergekommen, aber auf Augenhöhe, verfeinerte Bruno seine
       Geschichte, als er über die regennasse Landstraße fuhr. „So rein
       menschlich“, sagte er laut, verwarf die Formulierung aber wieder. Als das
       Navi Bruno in den Kiefernweg einbiegen ließ, war er restlos überzeugt:
       Während die Freunde sich stumpf betranken, würde er emotional reifen.
       
       ## Etwas Beglatztes und Bauchiges stand im Hausflur und freute sich
       
       Als die Tür geöffnet wurde, erschrak Bruno. Seine Mutter war kleiner, als
       er sie in Erinnerung hatte. Ob sich sein Vater verändert hatte, vermochte
       Bruno nicht zu sagen. Er hatte sich immer derart im Hintergrund gehalten,
       dass er nie einen tiefen Eindruck hinterlassen hatte. Da stand er nun als
       etwas Beglatztes und Bauchiges im Hausflur und beklopfte auf das
       mütterliche Stichwort „Der Vati freut sich auch sehr“ Brunos Schultern.
       
       „Das hast du selbst gemacht?“, fragte seine Mutter, als Bruno das Tiramisu
       in den Kühlschrank stellte. Bruno nickte, obwohl er den Nachtisch bestellt
       und beim Italiener abgeholt hatte. „So was konnte er ja schon immer“, rief
       sein Vater aus dem Wohnzimmer, ohne zu erläutern, worin „so was“ bestand.
       
       Dann musste Bruno Baum und Weihnachtsfiguren bewundern, während seine
       Mutter umständlich erklärte, welche Engelmusikanten sie auf welchen Märkten
       gefunden hatte. „Der Baum hat dreiunddreißigfünfzig gekostet“, informierte
       ihn der Vater. „Die hast du in der Grundschule ausgesägt“, wies ihn seine
       Mutter auf die krummen Holzsterne in den Zweigen hin. Bruno konnte sich
       nicht an die Bastelarbeit erinnern, war aber gerührt. Das würde er der Suse
       Beckinger mit ihrer Scheißkindheit erzählen, daran hätte die bestimmt lange
       zu kauen.
       
       Als Weihnachtsessen hatte Brunos Mutter Wolfsbarsch zubereitet. Beide
       Elternteile schienen ihm unerwartet versiert im Umgang mit dem
       Fischbesteck, während Bruno ein Massaker anrichtete. „Den habe ich extra
       für dich gemacht“, behauptete die Mutter, dabei hatte sich Bruno erst
       kürzlich vorgenommen, Fisch zu mögen, um weltgewandter zu erscheinen.
       Womöglich hatte er das seiner Mutter gegenüber am Telefon erwähnt.
       
       Die begeistert fischessenden Eltern erzählten von Städtereisen, die sie
       offenbar schon seit einer ganzen Weile unternahmen. Sein Vater schwärmte
       von irgendwelchen Uffizien, die Bruno nichts sagten, plötzlich unterbrach
       er die endlose Aufzählung der Caravaggios, Botticellis und Tizians und
       fragte mit sorgenvoll gekrauster Stirn: „Und auf der Arbeit?“
       
       „Ach, ganz gut“, begann Bruno, aber weil er sich von Wolfsbarsch,
       Bildungsreisen und Malerei herausgefordert fühlte, hörte er sich plötzlich
       sagen: „Ich hab gerade die Abteilung übernommen.“ Kaum war diese Unwahrheit
       ausgesprochen, bereitete es Bruno wenig Mühe, eine entsprechende Abteilung
       zu erfinden. Mit Begeisterung und einer Expertise, die ihn selbst
       überraschte, berichtete Bruno von seinem Berufsalltag als Salesmanager
       eines globalen Marktführers für optische Präzisionsgeräte. Über diese Firma
       hatte er neulich auf dem Klo einen längeren Artikel gelesen.
       
       ## In Aussicht gestellter Nachwuchs sorgte für feuchte Mutteraugen
       
       Als sie das Tiramisu aßen, erzählte Bruno von einer wunderbaren Frau, die
       er kennengelernt habe und versprach, die Suse den Eltern bald einmal
       vorzustellen. Als Bruno beim Kaffee auch noch Nachwuchs zumindest in
       Aussicht stellte, bekam nicht nur seine Mutter feuchte Augen.
       
       Bei der Verabschiedung zog ihn sein Vater ganz eng an sich. Solche
       Gefühlsbezeugungen waren sehr selten in Brunos Familie, umso wichtiger und
       umso wertvoller erschien ihm dieser rare Moment.
       
       „Ich habe schon ganz tolle Eltern“, erklärte Bruno dem Innenspiegel seines
       Autos und konnte nicht den Hauch eines Zweifel in seinem Gesicht entdecken.
       Auf der Rückfahrt drehte er das Radio auf und sang eine Weihnachtsschnulze
       mit, die er nicht ausstehen konnte.
       
       Brunos Hochstimmung hielt bis über die Feiertage an, dann erreichte ihn ein
       Brief. Seine Eltern beschrieben darin langatmig den Verlauf ihres
       „stimmungsvollen“ Weihnachtsfests im Romantikhotel Schröter. Der Brief
       enthielt einen Geldschein, versehen mit der Aufforderung, sich „was
       Schönes“ zu kaufen, und trug die Adressaufschrift „Fichtenweg 7“.
       
       Kiefern und Fichten, dachte Bruno, die hatte er noch nie unterscheiden
       können. Zunächst war Bruno unschlüssig, doch schließlich ging er zum Auto
       und programmierte den Kiefernweg in die Adressliste des Navi. Dann rief er
       Suse Beckinger an.
       
       24 Dec 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Bartel
       
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