# taz.de -- Menschenrechte in Russland: Wider die Erinnerung
> Die Auflösung von Memorial ist ein Urteil gegen alle Bürger*innen in
> Russland. Der Staat tilgt seine glanzlose Vergangenheit.
IMG Bild: Festnahme nach Protesten vor dem gericht in Moskau nach der GFerichtsentscheidung am 28.12
Das Urteil gegen die [1][Menschenrechtsorganisation Memorial] passt zum
Verständnis der heutigen russischen Führung. Diese ist fast auf den Tag
genau [2][30 Jahre nach dem Einholen der sowjetischen Flagge über dem
Kreml] dabei, einen neuen Staat aufzubauen. Einen Staat, der auf komplette
Kontrolle setzt, [3][der Zweifler*innen erniedrigt, einsperrt], verjagt,
der Huldigung will, von jedem und allen, und der keinen Blick nach hinten
wagt.
Nicht auf die Fehler, die gemacht worden sind, nicht auf die Menschen, die
wegen dieser Fehler ihr Leben ließen, nicht auf das Leid. Warum solle er
denn Reue zeigen und sich schämen, anstatt stolz zu sein auf die ruhmreiche
Vergangenheit, fragte sich der Staatsanwalt während der Verhandlung, bei
der es schlussendlich um die inhaltliche Arbeit und die Gesinnung der
Organisation ging und nicht um die Kennzeichnung als „[4][ausländischer
Agent]“.
Staatliche Erinnerungspolitik schließt die Erinnerungspolitik, wie Memorial
sie versteht, aus. Geschichte, das ist Glanz und Gloria, genauso wie der
russische Präsident Wladimir Putin diese Geschichte herbeischreibt – als
Heldenepos. Ein Infragestellen ist tabu. Memorial gibt es länger als den
modernen russischen Staat. Dass Russlands gelenkte Justiz die Organisation
nun auflöst, ist das Ende eines Landes, das in den 1990ern aufgebrochen war
auf der Suche nach einem humaneren Leben.
Das Urteil der Richterin ist ein Urteil gegen alle Bürger*innen im Land,
die aktiv etwas bewegen wollen und sich nicht mit der erstbesten „Wahrheit“
abfinden mögen. Es raubt den Menschen die Erinnerung an eine Vergangenheit,
die nicht glänzt. Es raubt die Erinnerung an ihre Großeltern und Eltern,
die unter dem stalinistischen Regime gelitten haben. Manche haben nie über
ihr Leid gesprochen.
Ihre Nachkommen sind auf die Arbeit der Unerschrockenen von Memorial
angewiesen. Denn ohne einen Blick in die Vergangenheit ist die Gegenwart
nicht zu verstehen. Ohne das Verarbeiten des Terrors von damals hat es der
Terror von heute nicht schwer. Das schamlose Urteil zeigt genau das.
28 Dec 2021
## LINKS
DIR [1] /Gruppe-Memorial-droht-das-Verbot/!5819089
DIR [2] /Nachwirkungen-der-Sowjetunion/!5821230
DIR [3] /Nawalny-Sprecherin-ueber-Dissidenz/!5808587
DIR [4] /Repression-in-Russland/!5741775
## AUTOREN
DIR Inna Hartwich
## TAGS
DIR Memorial
DIR Russland
DIR Wladimir Putin
DIR Menschenrechte
DIR GNS
DIR Russland
DIR Russland
DIR Russland
DIR russische Justiz
DIR Lesestück Recherche und Reportage
DIR Memorial
DIR Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Menschenrechtsorganisation in Russland: Nächste NGO vor dem Aus
Die Moskauer Helsinki-Gruppe soll dichtgemacht werden. Russlands Justiz
bemüht dafür offensichtlich konstruierte Vorwürfe.
DIR MenschenrechtlerInnen in Russland: Razzien in Moskau
Russische Behörden durchsuchen gleich mehrere Büros von Organisationen wie
Memorial. Vertreterin Swetlana Gannuschkina wird zum Verhör gebeten.
DIR Russische Organisation Memorial verboten: Kreml reißt die Geschichte an sich
Seit den 80er-Jahren hat die Organisation „Memorial“ Aufarbeitung
sowjetischer Gräueltaten betrieben. Nun wird sie in Russland verboten.
DIR Menschenrechte in Russland: Aus 13 werden 15 Jahre
Ein Gericht erhöht das Strafmaß für den inhaftierten Historiker Juri
Dmitriew. Er hatte zu Opfern Stalin’scher Repressionen gearbeitet.
DIR Gruppe Memorial droht das Verbot: Vom Ende der Erinnerung
Eine Gruppe Menschenrechtler stört die historischen Legenden des russischen
Präsidenten. Nun soll Memorial mundtot gemacht werden.
DIR Memorial-Mitbegründerin über Russland: „Wie schnell die Angst zurückkehrt“
Russland will die wichtigste Menschenrechtsorganisation des Landes,
Memorial, verbieten. Ein Gespräch mit einer Mitbegründerin.
DIR Menschenrechtsorganisation in Russland: Wo die Erinnerung „liquidiert“ wird
Vor dem Obersten Gericht beginnt der Prozess um die Organisation Memorial.
Der Generalstaatsanwalt wirft ihr Verstöße gegen die „Moral“ vor.