URI: 
       # taz.de -- Sitzplatzstadion in England: Stand up! For the game!
       
       > In der Premier League kehren die Stehplätze zurück, wenn auch nicht
       > überall. Fans hoffen, das Trauma von Hillsborough zu überwinden.
       
   IMG Bild: Crystal Palace gehört noch nicht zu den Klubs mit Stehplatztribüne, die Fans stehen noch abseits
       
       Manchester taz | Für [1][Englands Fußballfans] bricht nicht einfach nur ein
       neues Jahr an, wenn 2021 geht und 2022 kommt, sondern ein neues Zeitalter.
       Ab dem Neujahrstag sind in der Premier League zum ersten Mal seit fast 30
       Jahren wieder Stehplätze erlaubt, und zwar bei vier Vereinen. Die Londoner
       Vertreter Chelsea FC und Tottenham Hotspur und die Manchester-Clubs City
       [2][und United] haben von der Regierungsbehörde für Stadionsicherheit
       (Sports Grounds Safety Authority) die Erlaubnis bekommen, für den Rest der
       Saison Stehplätze zu erproben.
       
       Das Duell der deutschen Trainer Thomas Tuchel und Jürgen Klopp am Sonntag
       bei Chelseas Heimspiel gegen den FC Liverpool ist die erste Partie, bei der
       gestanden werden darf in einigen Sektoren des Stadions an der Stamford
       Bridge. Auch der walisische Zweitligist Cardiff City darf mit Beginn des
       neues Jahres Stehplätze anbieten.
       
       Sollte die Testphase erfolgreich verlaufen, könnten Stehplätze zur
       kommenden Saison flächendeckend in den Profifußball auf der Insel
       zurückkehren.
       
       Der Grund dafür, warum sie einst abgeschafft worden waren, lässt sich in
       einem Wort zusammenfassen, das für ein Trauma britischer Fans steht:
       Hillsborough. Im Hillsborough-Stadion in Sheffield kamen im April 1989 beim
       Halbfinale des FA Cup zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest fast
       100 Liverpool-Fans ums Leben, und zwar auf einer Stehplatztribüne. Die
       Regierung von Premierministerin Margaret Thatcher machte Englands
       Spielstätten danach zu „All seater“-Stadien. Das folgte der Annahme, dass
       die Liverpool-Fans selbst schuld waren an den Toten von Hillsborough. Diese
       Version etablierte die Polizei unmittelbar nach der Katastrophe mit Hilfe
       der englischen Boulevardpresse.
       
       ## Die Sun muss boykottiert werden
       
       Vor allem die Sun machte sich zum Sprachrohr der Polizei. Unter der
       Überschrift „the truth“ („die Wahrheit“) behauptete sie unter anderem, dass
       Liverpool-Fans den Toten ihre Wertsachen gestohlen oder auf Rettungskräfte
       uriniert hätten. Diese Anschuldigungen sind der Grund dafür, dass die Sun
       bis heute in Liverpool boykottiert wird. Mehr noch: Sie wird nicht einmal
       mehr verkauft in Supermärkten, an Zeitungsständen oder Bahnhofskiosken.
       Denn es ist längst erwiesen und seit 2016 auch gerichtlich festgestellt,
       dass nicht Fehlverhalten von Fans schuld war an den Toten von Hillsborough,
       sondern das Versagen der Polizei.
       
       Trotz dieser Erkenntnis gab es in England lange Vorbehalte gegen eine
       Rückkehr von Stehplätzen, vor allem aus Liverpool. Die Angehörigen der
       Hillsborough-Opfer sahen es als Verrat an den Toten an, die Einführung von
       Stehplätzen überhaupt zu diskutieren. Mittlerweile haben auch sie ihren
       Widerstand aufgegeben und sich eingereiht in die Koalition der
       Stehplatz-Befürworter. „Ich habe meine Meinung geändert. Wenn Fans
       Stehplätze wollen, haben sie ein Recht darauf“, sagte im November Margaret
       Aspinall, die bei der Hillsborough-Katastrophe ihren 18 Jahren alten Sohn
       James verloren hat und seitdem das Gesicht und die Stimme der
       Hinterbliebenen ist. Der FC Liverpool nimmt allerdings nicht an der
       Probephase mit den Stehplätzen teil. Das hat keine ideologischen Gründe,
       sondern logistische. Der Club testet in dieser Saison ein eigenes System im
       Anfield-Stadion. Dieses erlaubt einigen Fans das Stehen in besonders
       aufregenden Momenten des Spiels, allerdings nicht über 90 Minuten.
       
       Wenn über die Rückkehr der Stehplätze in der Premier League gesprochen
       wird, dann ist viel die Rede von einer Revolution, doch bei näherem
       Hinsehen ist das, was ab dem neuen Jahr passiert, gar nicht so
       revolutionär. Obwohl Englands Profispielstätten reine Sitzplatzstadien
       sind, wird schon jetzt in einigen Sektoren durchgehend gestanden, zum
       Beispiel hinter dem Tor und im Gästeblock. Die Vereine ignorieren diesen
       Verstoß gegen die Stadionordnung, weil sie ohnehin nicht viel dagegen tun
       können. Praktisch wird sich mit dem Start der Probephase also nicht viel
       ändern. Nur ist das Stehen in den betroffenen Bereichen künftig auch
       offiziell erlaubt – und es soll sicherer sein dank der Installation von
       Klappsitzen mit erhöhtem Geländer, wie man sie aus den Stadien der
       Bundesliga kennt.
       
       Eine Zeitenwende ist die Rückkehr der Stehplätze dennoch. Sie macht ganz
       offiziell Schluss mit der Logik, dass Fans schuld waren an den
       Hillsborough-Toten. Sie beendet die Stigmatisierung von Fans, die Fußball
       lieber im Stehen verfolgen als im Sitzen. Und sie ist nach dem Scheitern
       der europäischen Super League, an der sechs englische Clubs beteiligt
       waren, ein weiterer Erfolg für Faninteressen in England. Möglicherweise
       wird die Reihe im neuen Jahr noch erweitert. Eine von der Regierung
       beauftragte Kommission hat gerade vorgeschlagen, das Alkoholverbot auf den
       Rängen in Englands Profistadien aufzuheben.
       
       29 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fanproteste-im-englischen-Fussball/!5769430
   DIR [2] /Rekordniederlage-von-Manchester-City/!5712996
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hendrik Buchheister
       
       ## TAGS
       
   DIR Fußball
   DIR Fans
   DIR England
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
   DIR Fußball
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Publikum bei Sportveranstaltungen: Elite und Pöbel
       
       Mit dem modernen Sport kamen auch die Zuschauer in die Arenen. Wie Sport
       zum Massenphänomen wurde und welche Probleme damit aufgekommen sind.
       
   DIR 1989 starben 96 Liverpooler Fußballfans: „Jetzt kennen wir die Wahrheit“
       
       1989 starben 96 Menschen im Hillsborough-Stadion von Sheffield. Daran waren
       die Liverpool-Fans nicht schuld, wie Polizei und Presse behaupteten.
       
   DIR Katastrophe im Hillsborough-Stadion: Lügner in Uniform
       
       Nach 23 Jahren enthüllt ein Bericht das Polizeiversagen beim tödlichen
       Pokalspiel von Hillsborough. 1989 starben 96 Menschen, von denen 41 wohl
       überleben hätten können.