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       # taz.de -- „Mental Health“-Diskurs: Die Welt ist zum Verrücktwerden
       
       > Natürlich geht's uns schlecht! Aber wie geht es besser? Individelle
       > Psycho-Tipps aus dem Netz helfen selten. Sie privatisieren bloß das
       > Politische.
       
   IMG Bild: Um herauszufinden, was nicht stimmt, braucht maus keine Therapie. Sondern Apps und Schaumbäder!
       
       Jahreswechsel, Winter, Pandemie, Life: [1][„Mentale Gesundheit“] ist kein
       saisonales Thema, unter diesem Namen jedoch definitiv ein Trend. Zwar wird
       „verrückt sein“ – und dies nicht zu verheimlichen – weiterhin stigmatisiert
       und mitunter sanktioniert, aber immer mehr Räumen wird maus mittlerweile
       eingeladen, darüber zu sprechen, dass es maus ab und zu auch mal schlecht
       geht.
       
       Ob in Büchern, Zeitschriften, Podcasts, Sozialen Medien oder Talkshows,
       Menschen dürfen sich häufiger verletzlich zeigen und von ihrem
       Unwohlergehen berichten. Das ist erst mal begrüßenswert, aber der Diskurs
       um „Mental Health“ wird dann überwiegend doch eher anti-emanzipatorisch,
       individualistisch und neoliberal verhandelt. So entsteht der Eindruck,
       Kapitalismus sei nicht der Auslöser, [2][sondern der Ausweg] für den
       kollektiven Zustand der Antriebslosigkeit, des vernebelten Kopfs, der
       fehlenden Lebensfreude und Unruhe.
       
       Der Markt kann das regeln: mit Meditations-Apps, Schaumbädern,
       Gewichtsdecken oder Retreats. Um herauszufinden, was mit maus nicht stimmt,
       benötigt es nicht mal eine langjährige Therapie. Früher gab es dubiose
       Persönlichkeitstests, heute Listicles und Infografiken auf Social Media.
       Der Infoslide Industrial Complex verkürzt nicht nur politische Diskurse,
       sondern auch den Weg zur Diagnose.
       
       Chaos, Erschöpfung, Vergesslichkeit, Rastlosigkeit, Ungeduld, Impulsivität,
       Schwierigkeiten in der Schule und mangelnde Konzentration haben natürlich
       nichts mit neun Stunden Bildschirmzeit auf TikTok, dem Schulsystem und dem
       Leben im Kapitalismus zu tun – sondern sind Zeichen, dass maus ADHS hat.
       
       ## Baby, ich versuche nur zu heilen!
       
       Eine Selbstdiagnose als Ausrede zu nutzen, sich Freund_innen gegenüber
       daneben zu verhalten, ist eine Sache. Begriffe aus der Psychologie und
       insbesondere aus der Traumaforschung aufzugreifen, um Kritik von sich zu
       weisen, eine andere. Baby, ich versuche nur zu heilen, du hast mich halt
       getriggert, wir haben scheinbar unterschiedliche Grenzen! Was online
       zynisch als „Tenderqueer“-Vokabular bezeichnet wird, ist eine perfide Art,
       andere zu manipulieren, um nie Verantwortung für das eigene Verhalten
       übernehmen zu müssen. Leute lesen drei Infotafeln und denken, sie haben
       neun Jahre Therapeut_innenausbildung.
       
       Durch die Selbstpathologisierung und Individualisierung psychischer
       Probleme wird das Politische zum Privaten verklärt. Natürlich geht es uns
       schlecht. Mag sein, dass chemische Ungleichgewichte im Gehirn dabei eine
       Rolle spielen, doch wir können nicht nur die Biologie für strukturelle
       Zustände verantwortlich machen.
       
       Ohne Psychiatrie- und Systemkritik ist die Debatte um „Mentale Gesundheit“
       nichts wert. Individuelle Lösungen helfen vielleicht gegen Symptome, doch
       für die Ursachenbekämpfung braucht es gesellschaftliche Befreiung und nicht
       Tipps zum besseren Aushalten und Hinnehmen, dass die Welt, wie sie gerade
       ist, unseren Kopf so fickt.
       
       30 Dec 2021
       
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