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       # taz.de -- Ausstellung im Hamburger Bahnhof: Damit Kriegen die Luft ausgeht
       
       > Die Ausstellung „Church for Sale“ ist überraschend politisch. Werke zu
       > Themen wie Armut und Gentrifizierung stammen aus der Sammlung Haubrok.
       
   IMG Bild: Jenny Holzer, THE BEGINNING OF THE WAR WILL BE SECRET., 1983 – 1985
       
       Das eindrucksvollste Objekt ist leider schon wieder weg. Etwa eine Woche
       nach Eröffnung der Ausstellung „Church for Sale“ wurde die Luft aus
       Christoph Büchels Kunstoffreplik des Kampfflugzeuges F-16 herausgelassen.
       Das militärische Gerät, in seinen Originaldimensionen nachgebaut, sank im
       Zuge des Abbaus vor dem Eingang des [1][Hamburger Bahnhofs] in Berlin-Mitte
       in sich zusammen.
       
       Als unverhoffte Zeuge dieser De-Installation wünschte man sich, dass
       überhaupt aus Kriegen so schnell die Luft abgelassen werden kann wie hier
       und generell nur noch weiche Gummihüllen vom martialischen Instrumentarium
       zurückbleiben.
       
       Leider ist dem nicht so. Das Kunstobjekt, Werktitel „Dummy (F-16)“, war
       lediglich für die Berliner Witterung nicht geeignet. „Es drohte, uns in den
       Herbstwinden davonzufliegen“, erzählte ein Techniker, der den Abbau
       bewerkstelligte, der taz.
       
       Aber auch die verbliebenen 25 Werke und Werkgruppen, die sich meist im
       Innenraum der großen Halle der Kunstinstitution befinden, sind das Kommen
       wert. Denn es handelt sich um Arbeiten, die oft in formaler Strenge sehr
       unterschiedliche politische Problemlagen aufgreifen und verdichten.
       
       ## Särge für wehrdienstfähige junge Menchen
       
       Sofort ins Auge fallen Rodney McMillians aus Karton gefertigte Objekte in
       Sargform. Sie rufen Bilder von Sargarrangements in Folge von Kriegen und
       Katastrophen in Erinnerung. McMillian wählte 18 Särge aus, als Verweis
       darauf, dass junge Menschen ab 18 Jahren in den USA – und nicht nur dort –
       als wehrdienstfähig gelten.
       
       Die etwa kniehohen Objekte wirken außerdem wie eine Barriere. Das kann als
       Hinweis auf die Mobilitätseinschränkungen gelesen werden, die inzwischen
       Abwehrmaßnahmen für Terroranschläge so nach sich ziehen. Es kann darüber
       hinaus als Symbol für Zugangssperren in Gesellschaften überhaupt, sei es
       durch ethnische Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, soziale Schicht,
       Bildungsgrad oder Wohnort bestimmt, interpretiert werden.
       
       Der Großobjekte ist damit noch kein Ende. Santiago Serra hat gewichtige
       Plastikbehältnisse, die jeweils einen Kubikmeter Erde enthalten, in die
       einstige Bahnhofshalle wuchten lassen. Vier dieser klobigen Objekte, die
       die ideale Würfelform beileibe nicht mehr halten können, sind jetzt zu
       sehen.
       
       Sie gehören zu ursprünglich 40 Kubikmetern Erdreich, das Sierra 2013 in
       Bilbao ausheben ließ als Symbol für die Grundstücks- und
       Immobilienspekulationen in der baskischen Hauptstadt. Zur
       Gentrifizierungsschraube trug selbstverständlich auch das 1997
       fertiggestellte Guggenheim-Museum bei.
       
       ## Understanding statt Abriss
       
       Gentrifizierungskritische Kunst nach Berlin zu bringen ist mittlerweile wie
       Eulen nach Athen tragen. Im Falle des Hamburger Bahnhofs verdichtet sich
       das Thema aber noch einmal. Denn auch der Standort des vor 25 Jahren
       eröffneten Museums war bis vor Kurzem bedroht. Die Rieck-Hallen sollten
       abgerissen werden, Pläne für die üblichen gesichtslosen Wohn- und
       Geschäftsbauten kursierten bereits in Investorenkreisen.
       
       Dank eines Memorandums of Understanding zwischen dem Berliner Senat und der
       österreichischen Immo AG, der das einstige Bahngelände gehört, und das
       einen Grundstückstausch vorsieht, scheint die Gefahr aber gebannt. Der neue
       Senat muss das Papier allerdings noch umsetzen. „Church for Sale“ ist also
       die perfekte künstlerische Mahnung, hier auch Vollzug zu schaffen.
       
       Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf eine gleichnamige Werkserie vom
       US-amerikanischen Künstler Edgar Arceneaux. Zum Höhepunkt des Ausverkaufs
       der Stadt Detroit fertigte Arceneaux grell bunte Aquarelle an, die
       Verkaufswerbebanner für abzugebende Kirchen zeigten. Die Telefonnummer, die
       auf dem Banner zu sehen ist, ist noch immer vergeben. Allerdings meldete
       sich am anderen Ende in Michigan nur der Anrufbeantworter einer
       Privatperson.
       
       Ein weiteres der Großprobleme unserer Zeit verarbeitet der [2][in Chile
       geborene Künstler Alfredo Jaar]. Seine Installation aus gebogenen
       Neonröhren skizziert gängige Fluchtrouten über den Erdball.
       
       ## Überraschend politische Ausstellung
       
       Aus der planetarischen Perspektive zoomt Emily Jacir zu den ganz konkreten
       Zumutungen herunter, die israelische Checkpoints im Westjordanland für die
       palästinensische Bevölkerung im Alltag mit sich bringen. Sie lässt ihre im
       Rucksack versteckte Kamera bei mehreren Fußmärschen ununterbrochen laufen.
       
       Dass Politik in erster Linie die Beseitigung von Problemen und das
       Herstellen möglichst lebenswerter Bedingungen für die größtmögliche Anzahl
       der Personen bei Berücksichtigung der Rechte von Minderheiten darstellen
       sollte, wird bei einer zweiten Arbeit von Rodney MacMillian deutlich. Er
       zeigt dort Ausschnitte aus der programmatischen Rede „The Great Society“
       von US-Präsident Lyndon B. Johnson aus dem Jahre 1964.
       
       Johnson verspricht dabei Auswege aus Armut, Bildungs- und
       Gesundheitsmisere. Manche dieser Gedanken lassen sich auch im
       Koalitionsvertrag der aktuellen Ampel-Regierung finden. Darüber kann man
       sich freuen – oder entsetzt sein, dass politische Versprechen von vor mehr
       als 50 Jahren noch immer als frisch und neu und positiv verkauft werden.
       
       „Church for Sale“ ist eine für den Hamburger Bahnhof überraschend
       politische Ausstellung mit zahlreichen starken künstlerischen Positionen.
       Ermöglicht wurde sie in Zusammenarbeit mit der Berliner Haubrok Foundation.
       Diese Kooperation markiert auch einen Paradigmenwechsel nach Abzug des
       größten Teils der politisch so umstrittenen wie künstlerisch hochwertigen
       Flick Collection.
       
       Strategische Partnerschaften mit unterschiedlichen Leihgebern sind das
       Konzept. Die parallel eröffnete zweite Ausstellung zum 25. Jubiläum,
       „Nation, Narration, Narcosis“, wurde gar als Shared Collection (gemeinsame
       Sammlung) mit den Nationalgalerien von Indonesien und Singapur konzipiert.
       
       Kuratorin Gabriele Knapstein stößt mit diesem Konzept sowie mit der
       Sicherung der Rieck-Hallen das Tor weit auf für eine gute Zukunft des
       Hamburger Bahnhofs. In diesem Lichte wirkt die Bestellung zweier
       auswärtiger Direktoren ab Januar 2022 durch die frühere
       Kulturstaatsministerin Monika Grütters umso unverständlicher.
       
       1 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Reform-der-Staatlichen-Museen-in-Berlin/!5758941
   DIR [2] /Lateinamerikanische-Kunst-in-Wolfsburg/!5234874
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Mustroph
       
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