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       # taz.de -- „Frau im Dunkeln“ auf Netflix: Die nicht beachtete Beobachterin
       
       > Werden ältere Frauen unsichtbar? Maggie Gyllenhaal überzeugt mit ihrem
       > Regiedebüt „Frau im Dunkeln“ nach dem Roman von Elena Ferrante.
       
   IMG Bild: Die Literaturprofessorin Leda (Olivia Colman) bei ihrem Griechenlandurlaub am Strand
       
       Frauen beschreiben ihr Erleben des Älterwerdens oft als ein Hinübergleiten
       in die Unsichtbarkeit. Es hat einige Vorzüge – und viele, viele Nachteile.
       In ihrem Regiedebüt „Frau im Dunkeln“ [1][inszeniert Maggie Gyllenhaal
       Situationen], die sowohl für das eine wie das andere stehen. Und das mit
       einer Präzision, die in die Knochen fährt. Da wäre zum Beispiel der Abend,
       an dem Leda (Olivia Colman), eine Frau Ende 40, ins Kino geht. Außer ihr
       sind nur wenige Zuschauer da; viele der Stühle im hallenartigen Raum stehen
       leer.
       
       Der Film hat längst begonnen, als eine Gruppe Jugendlicher hereinkommt.
       Lärmend und so mit sich selbst beschäftigt, dass sie dem Film gar keine
       Aufmerksamkeit schenken, setzen sie sich in die vorderen Reihen und blödeln
       weiter herum. Leda ist empört. Da niemand anderes etwas sagt, steht sie auf
       und droht damit, den Platzanweiser zu holen. „Mach doch!“, brüllt es aus
       dem Haufen zurück. Leda geht los und versucht, wenigstens die Kassiererin
       zum Einschreiten zu bewegen.
       
       Als die, eher desinteressiert, den Saal betritt und mit Taschenlampe die
       vermeintlichen Störer sucht, halten die Jugendlichen auf einmal still. Nur
       um wenig später, Leda zum Hohn, wieder in umso lärmigeres Verhalten
       auszubrechen. Die Demütigung treibt ihr die Tränen in die Augen. Da steht
       einer der älteren Männer unter den Zuschauern auf und schimpft. Erst da
       geben die Jungen wie eingeschüchtert etwas Ruhe. Und Leda fühlt sich erst
       recht gedemütigt.
       
       ## Die Bedürfnisse und deren Anerkennung
       
       Die Szene steht als exzellenter Beleg auch dafür, dass die „Unsichtbarkeit“
       der älteren Frau nichts mit ihrem Aussehen an sich zu tun hat. Vielmehr
       geht es um ihre Bedürfnisse und deren Anerkennung. Wobei das Durchsetzen
       und Artikulieren dieser Bedürfnisse auch schon den jungen Frauen
       schwerfällt und schwer gemacht wird. Davon handelt [2][Elena Ferrantes]
       Roman „Frau im Dunkeln“, für dessen Adaption die Schauspielerin Maggie
       Gyllenhaal beim Festival in Venedig im vergangenen September einen Löwen
       für das beste Drehbuch erhielt.
       
       Die Handlung des Romans hat Gyllenhaal von Italien nach Griechenland
       verlegt, ihre Leda ist keine italienische, sondern eine britische
       Literaturprofessorin mit Anstellung in Boston, USA. Aber im Ablauf der
       Ereignisse bleibt Gyllenhaal nah an den suggestiven Details der Prosa von
       Ferrante. Dinge wie der Obstkorb in der Ferienwohnung, der Leda beim Einzug
       so einladend erscheint.
       
       Als sie sich am nächsten Tag eine Orange herausgreift, muss sie entdecken,
       dass sie an der Unterseite total verschimmelt ist. Und später ist da die
       Puppe, die Leda einem kleinen Mädchen am Strand klaut. Auch sie hat eine
       schockierend hässliche Seite: beim Saubermachen kommt aus dem Plastikmund
       ein ekliger großer Wurm herausgekrochen.
       
       ## Alles sieht nach einem gut geplanten Urlaub aus
       
       Warum überhaupt klaut Leda, eine 48-jährige Literaturprofessorin, am Strand
       einem kleinen Mädchen die Puppe? Gyllenhaal gibt darauf in ihrem Film genau
       so wenig wie Ferrante in ihrem Buch eine echte Antwort. Allein die
       Bereitschaft, diese Frage zu stellen und die Bedürftigkeit zu spüren, die
       sich darin ausdrückt, könnte darüber entscheiden, ob einem dieser Film
       gefällt oder nicht.
       
       Zuerst sieht alles nach einem gut geplanten Urlaub aus. Bei der Fahrt mit
       dem Leihwagen zum Küstenort streckt eine entspannte, sonnenbebrillte Leda
       den Arm aus dem Fenster, wie man das so macht im Feriengefühl von warmer
       Luft und schöner Landschaft. Die Ferienwohnung, in die sie der
       amerikanische Ex-Pat Lyle (Ed Harris) bringt, ist spärlich eingerichtet,
       aber funktional. An das nächtliche Schiffshupen gewöhnt sie sich schnell,
       wie von Lyle angekündigt.
       
       Der Strand ist zunächst ein Traum: eine kleine Bucht, in der die
       Aufmerksamkeit des netten Aushilfskellners Will (Paul Mescal) fast ihr
       alleine gilt. Bis ein lautstarker Familienclan, offenbar US-Amerikaner mit
       griechischen Wurzeln, aus kleinen Kindern, schwangeren Frauen und wenig
       vertrauenerweckenden Männern herankommt und große Teile der Badestühle mit
       Beschlag belegt.
       
       ## Die ältere Frau, die alleine erst recht nicht zählt
       
       Leda soll zurückweichen, damit sie alle nebeneinander Platz finden. Aber
       Leda weigert sich, dem Druck nachzugeben. Da ist sie wieder, die
       Unsichtbarkeit der älteren Frau, die erst recht nichts zählt, wenn sie
       alleine ist.
       
       Später jedoch kommt Callie (Dagmara Domynczyk, den „Succession“-Fans als
       Pressesprecherin Karolina bekannt) wieder auf Leda zu und entschuldigt sich
       für das übergriffige Verhalten. So demonstrativ freundlich der Umgang der
       beiden Frauen nun miteinander ist, so spannungsgeladen ist das kurze
       Gespräch, mit dem sie aneinander Maß nehmen: woher sie kommen, wie alt sie
       sind, ob sie Kinder haben.
       
       Callie, im siebten Monat schwanger, scheint sich Ermutigung von der älteren
       Frau zu erhoffen. Aber Ledas Antworten darauf, wie es ihr als Mutter zweier
       inzwischen erwachsenen Töchter ergangen sei, sind ausweichend und
       kompliziert. Zum Vorschein kommt während der ganzen Strandsequenz auch
       einer der Vorteile der Unsichtbarkeit der Älteren: Da niemand ihr Beachtung
       schenkt, solange sie nicht im Weg ist, kann Leda getrost selbst beobachten.
       
       ## Die Beobachtung des Clans
       
       Und die Beobachtung des Clans, darin besonders der noch sehr jungen Mutter
       Nina (Dakota Johnson) und ihrer kleinen Tochter Elena, fesselt die
       Aufmerksamkeit der Professorin bald mehr als ihre mitgenommene
       Studienlektüre. Gyllenhaal setzt das so großartig wie ökonomisch in
       Szene: Man sieht Colmans Leda schauen, mal von unter ihrem Sonnenschirm
       hervor, mal im Wasser bei einem kleinen Abkühlungsbad, und dann im
       Parallelschnitt das banale Treiben, dass sie so sehr interessiert.
       
       Nina und Elena schmusen und toben, in den ruhigeren Momenten nimmt die
       Mutter ein Sonnenbad, während die Kleine mit ihrer Puppe spielt. Alles
       Anblicke, die Leda zutiefst aufwühlen.
       
       Immer länger werden dabei die Sequenzen, die den Zuschauer in Ledas
       Erinnerungen an ihre eigene Zeit als junge Mutter transportieren. Nun
       gespielt von Jessie Buckley, sieht man Leda in der nicht untypischen
       Überforderung einer verheirateten jungen Akademikerin mit zwei kleinen
       Kindern. So süß die Mädchen sind, ist ihre Präsenz eben auch eine ständige
       Anstrengung. Sicher, es gibt Momente von herzlichem Gelächter und
       Familienspaß, aber dann wieder die alltägliche Nerverei um Schuheanziehen
       und Schlafengehen, so repetitiv wie kräftezehrend.
       
       ## Das eigene Gefangensein als junge Mutter
       
       Nach und nach enthüllt sich in diesen Rückblenden, was Ledas Antwort auf
       die Frage nach ihrer Muttererfahrung so kompliziert macht. Das wiederum auf
       so enge Begriffe wie Doppelbelastung, Schuldgefühl oder Versagensangst zu
       bringen, hieße die suggestive Kraft der filmischen Erzählung – und ihrer
       literarischen Vorlage – zu unterschätzen. Gyllenhaal gelingt es
       meisterhaft, statt flacher Thesen atmosphärisch nuancierte Widersprüche
       aufzufächern.
       
       Leda erkennt in Nina nicht nur ihr eigenes Gefangensein als junge Mutter
       wieder, sie sieht auch den Klassenunterschied, der besonders in den
       Männergestalten des Clans deutlich wird. Immer wieder erntet sie
       misstrauische Blicke, muss sich kleine Einschüchterungen gefallen lassen.
       
       Der 70-jährige Lyle wiederum behandelt sie, als müsse sie jede seiner
       Avancen mit Dankbarkeit quittieren. Die „Frau im Dunkeln“ ist nicht
       unsichtbar, sie wird allzu oft übersehen. Aber nicht in diesem Film, in dem
       Olivia Colman einmal mehr ihre wunderbar erwachsene Schauspielkunst
       entfalten darf.
       
       29 Dec 2021
       
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