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       # taz.de -- Die Wahrheit: Fuck zurück im Zorn
       
       > Endlich sagt es mal einer und blickt zurück auf #fck2021, bevor es
       > demnächst heißen wird: #fck2022! Derselbe alte Scheiß, nur neu!
       
       Erinnert sich noch jemand an das vorige Jahr? Als zu Silvester hin der
       Hashtag #fck2020 trendete, weil alle dachten: So scheiße wie 2020 kann es
       nie wieder werden? Ja, genau! Und was kam dann? Richtig, das vermaledeite
       #fck2021! Ach, was waren wir noch naiv und unschuldig damals, als der
       Schrecken der Zeit noch Delta hieß und Impfgegner noch Coronaleugner und
       2Gplus noch Lockdown. Und Scholz hieß noch Merkel und Klabauterbach hieß
       Spahn! Ja, früher war alles besser!
       
       Also, blicken wir zurück – nicht im Zorn, sondern voller Dankbarkeit. Da
       gibt es diese wundervolle objektorientierte Programmierung, die großen
       Software-Projekte … Ach nee, halt, falscher Text. Also doch Blick zurück im
       Zorn. „Blick zurück im Zorn“ ist ein Drama aus dem Jahr 1959 von Tony
       Richardson mit Richard Burton nach dem Drama „Look back in Anger“ des
       zornigen jungen Mannes John Osborne. Merke dir Film und Buch jetzt vor und
       wir benachrichtigen dich … Entschuldigung. Ich muss aufhören, meinen Text
       zu googeln, noch bevor er fertig ist!
       
       Also, dritter oder vierter Anlauf. Das Jahr 2021 im Schnellrückblick. Was
       da nicht so alles passiert ist! Sturm auf das Kapitol, Trump heißt jetzt
       Biden, Schlauchbootparty auf dem Suezkanal, Laschet übertölpelt CDU und
       CSU, Laschet im Volkssturm, Laschet in „Der Untergang“, Check-out-Time in
       Kabul, dann Laschets Schiffbruch im Wahldesaster, das Ampel-Selfie, der
       Merkel-Abtritt, das Drei-Kanzler-Jahr in Österreich, dazwischen eine
       Superspreader-EM und olympische Geisterspiele. Es war ganz schön was
       geboten in diesem schrecklichen #fck2021!
       
       Blicken wir aber einmal hinter die Kulissen des Weltgeschehens. Versuchen
       wir einen Rückblick, der sich einmal nicht nur an den Eckdaten der
       Nachrichten abarbeitet, sondern der Wahrheit des Überbaus die Ehre gibt.
       Und auch mal dort in die Ecken schaut, in die sonst niemand … äh, na ja,
       auch: schaut …
       
       Das Jahr twentytwentyone war nämlich nicht nur eines, das voller Corona
       war, dieses „zweite Jahr der Quarantäne“, auf das wir gewiss in dreißig
       Jahren mit der Gelassenheit der Langzeitwirkung und mit einer blassen
       Erinnerung an die letzten sozialen Kontakte zurückblicken werden. Sondern
       es war auch ein Jahr, das sich schon in seinem milden bis schlimmen Verlauf
       selbst wie ein einziger Rückblick anfühlte.
       
       ## Alles wurde dauernd schlechter oder besser als noch kurz zuvor
       
       Und das sogar dreifach! Denn das Jahr 2021 blickte erstens angsterfüllt auf
       das erste Jahr nach oder mit Corona (kurz: n. C.) zurück, also auf, wir
       erinnern uns, #fck2020. Es sah zweitens fortlaufend auf sich selbst zurück,
       weil alles dauernd besser oder schlechter war als noch einen Moment zuvor;
       und schließlich, drittens, war es wie ein Rückblick auf alle schlimmen
       Jahre in einem – wie die Merkel-Jahre zum Beispiel. Oder blickte viertens
       doch lieber auf die besseren, die aber leider lange her und nicht mehr
       erreichbar waren. Vier, das sind vier Rückblicke in einem! Ein Jahr, vier
       Rückblicke! Kurzum, 2021 war an sich ziemlich retro.
       
       Das machte sich kulturell zum Beispiel darin bemerkbar, dass uralte Serien,
       Filme und Formate neu aufgelegt wurden und so ihr ungeahntes Comeback
       feierten. „TV Total“ oder „Wetten, dass..?“ oder „Sex and the City“ oder
       „Diese Drombuschs“, was ja so was wie das deutsche „Sex and the City“ ist.
       Witta Pohl statt Kim Cattrall! Das gute, alte Bügelfernsehen war vom
       Müllhaufen der Fernsehgeschichte wiederauf-erstanden, warum auch immer. Man
       war ja auch ständig zu Hause! Und die Mediathek war das Netflix für Arme!
       
       Eher untergegangen ist allerdings die mit Notbesetzung abgedrehte
       ultraallerletzte Folge von „Das Traumschiff“, in der das Traumschiff
       tatsächlich untergeht! Natürlich nicht ohne Kritik am Klimawandel: Oder wie
       sonst ist zu erklären, dass ein Kreuzfahrtschiff ohne einen einzigen
       Coronafall an einem Eisberg nahe Korsika zerschellt? Kapitän Florian
       Silbereisen sah jedenfalls ziemlich blass aus.
       
       Kult auch die neue Folgen der „Golden Girls“ in alter Besetzung. Schade
       nur, dass dabei lediglich Betty White einen lebendigen Eindruck machte,
       während der Rest eher … nun ja, Schwamm beziehungsweise Sargdeckel drüber.
       
       Im Kino lief die „West Side Story“, im Radio Elton John, an der Spitze der
       Charts stand Tom Jones, Deutscher Meister im Fußball wurde der FC Bayern.
       Man tat in diesem Jahr einfach alles, um vergessen zu machen, welches Jahr
       tatsächlich war. Um es der Wahrheit halber noch einmal zu sagen: Es war
       2021. #fck2021 für alle Honks.
       
       Die paar Mutigen, die sich trotz 2Gplus ins Kino wagten, wollten dann auch
       nur alten Scheiß sehen. Die 300. Fortsetzung von „Spider Man“. Am liebsten
       aber Zeichentrickfilme mit Menschen nach Comics, die schon ihre Eltern
       heimlich unter dem Bett gelesen haben. Wie die mexikanische Antwort auf die
       Marvel-Superhelden-Filme: „Calimero vs. Speedy Gonzalez 2“.
       
       Obwohl Calimero mit Sombrero eher im kühlen Schatten herumsteht, als die
       „schnellste Maus von Mexiko“ zu geben, ging der Animationsstreifen unter
       den Ladentheken der nicht mehr vorhandenen Videotheken weg wie
       zerschmelzende Tacos mit extra Käse. Aber keine Sorge, Peter Jackson soll
       die Hollywood-Variante des Stoffs bereits eingetütet haben; der Darsteller
       von John Lennon aus dem Disney-Erfolg „Get Back“ (sic!), dessen Name leider
       gerade nicht greifbar ist, soll für die Rolle des Calimero bereits
       angefragt sein; Benicio del Toro und Leonardo DiCaprio gelten als gesetzt.
       
       ## Alle Menschen sind schlecht, wusste schon der gute Seneca
       
       Bleibt uns noch, ein letztes Fazit zu ziehen zum Jahr, das war. Ein Fuck
       zurück im Zorn! Und nebenbei noch ein wenig belesen und bildungsbeflissen
       tun. „Zwei Motive des Zorns sind bei Seneca hervorgehoben“, lesen wir zum
       Beispiel auf einer weiteren Google-Suchseite. „Zum einen das Bewusstsein
       der eigenen Grenzen, zum anderen die innere Größe. Die Einsicht in die
       eigenen Grenzen sollte den Menschen vom Zürnen abhalten, ihn also zur
       Zornbewältigung befähigen. Das Wissen um unsere Sterblichkeit, die sich in
       Fehlern und Schwächen äußert, hat zur Folge, dass niemand von uns ohne
       Schuld ist, alle sind wir schlecht, schreibt Seneca.“
       
       Und der muss es ja wissen, was es mit dem Sterben auf sich hat, soll er
       sich doch gleich vierfach selbst die Kugel gegeben haben: Erst hat er sich
       die Pulsadern aufgeschnitten, dann die Beinarterien geöffnet, dann einen
       Schierlingsbecher getrunken und schließlich ist er in einem Dampfbad
       erstickt. Mehr geht nicht.
       
       So, Senecas Weisheit sollten sich jetzt alle mal hinter die Ohren
       schreiben: Alle sind wir schlecht! Und zudem äußerst beschränkt und
       begrenzt, nicht nur während weltweiter Reisewarnungen! Also: Besserung ist
       angesagt! Für die gesamte Menschheit! Die Einsicht und Demut zeigen muss!
       Damit es nicht auch Ende 2022 wieder heißt: Good-bye to the old shit, let
       the new shit begin!
       
       31 Dec 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Hamann
       
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