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       # taz.de -- Boykottdebatten um Olympia: Macht Sport!
       
       > Annalena Baerbock wird in Peking fehlen. Das zeigt, wie mächtig der Sport
       > geworden ist. Nun müssen nur noch die Aktiven stärker werden.
       
   IMG Bild: Athletenprotest beim Wintersport: 2010 forderten Aktive beim Weltcup Respekt vom Verband ein
       
       Als Annalena Baerbock noch nicht zu entscheiden hatte, dass sie als
       Bundesministerin des Auswärtigen nicht zu den Olympischen Winterspielen
       nach China reisen wird, fuhr sie noch als Trampolinspringerin für den TSV
       Pattensen zu Deutschen Meisterschaften.
       
       Das war in den neunziger Jahren, und die gelten als Zeit der boykottfreien
       Olympischen Spiele. Noch 1988 in Seoul fehlte beispielsweise Kuba, und
       1984, 1980 und 1976 hatten [1][sehr große Boykotte] die Sportwelt
       erschüttert. Solche politischen Entscheidungen, mal vom Gros der
       Warschauer-Pakt-Staaten, mal vom Gros der Nato-Staaten und mal vom Gros der
       afrikanischen Staaten gefällt, galten als ganz sanfte Formen
       zwischenstaatlicher Sanktionen: Ehe eine Regierung Handelssanktionen
       verhängte oder gar einen Krieg erklärte, entschied sie lieber, die besten
       Sportler und Sportlerinnen nicht nach Olympia zu schicken. Dass dies für
       die der Höhepunkt ihres Lebens gewesen wäre, auf den sie mindestens vier
       Jahre lang hin trainiert hatten, pflegte das politische Personal zwar mit
       ernstem Gesicht rhetorisch zu bedauern, aber im Grunde war es ihm egal.
       
       Wie sehr der Sport in den vergangenen Jahren an weltpolitischer Macht
       zugelegt hat, ist daran zu erkennen, dass es mittlerweile eine noch softere
       Form der sportpolitischen Sanktion gibt: Wir schicken zwar das beste
       Sportteam, aber wir lassen Staatspräsidenten und Ministerinnen zu Hause.
       Das kann man dann, wie Baerbock oder ihre Kabinettskollegin,
       Sportministerin Nancy Faeser, als „persönliche Entscheidungen“ verkaufen.
       Oder, wie die USA und Großbritannien, als [2][„diplomatischen Boykott“],
       was entschlossener und politischer klingt. Aber in jedem Fall traut sich
       die Politik nicht mehr an die Athleten und Athletinnen ran. Der Sport ist
       so wichtig geworden, dass sich keine Regierung mehr wahlweise eine
       autoritäre Instrumentalisierung („Unsere Sportler fahren nicht!“) oder eine
       dümmliche Ignoranz („Nun siegt mal schön!“, Bundespräsident Theodor Heuss
       1958) erlauben kann.
       
       ## Für eine Demokratisierung des Sports
       
       Das ist zunächst einmal ein großer zivilisatorischer Fortschritt: Menschen,
       die für ihre sportlichen Leistungen verehrt werden, dürfen nicht mehr als
       politische Verfügungsmasse behandelt werden. Das birgt aber zum anderen
       eine große Verantwortung: Einen sich als unpolitisch definierenden Sport
       kann es nicht mehr geben, und nicht nur das bisherige Personal, ob es
       Thomas Bach, Alfons-Hörmann-Nachfolger oder DFB-Präsident (N.N.) heißt,
       traut sich nicht, das anzuerkennen.
       
       Auch die Sportler und Sportlerinnen werden sich nur langsam ihrer
       Verantwortung bewusst. Sie beginnen vielerorts erst tastend damit, die
       Rechte, die ihnen lange vorenthalten wurden, für sich zu reklamieren. Ganz
       nebenbei gesagt, sollte das mittelfristig auch dazu führen, Leute wie
       Thomas Bach und sein ganzes, durch nichts legitimiertes Komitee vom Hof zu
       jagen und den Sport nachhaltig zu demokratisieren. Eine starke
       Athletenbewegung gibt es noch nicht, aber es deutet doch vieles darauf hin,
       dass immer häufiger Sportler und Sportlerinnen ihre gesellschaftliche und
       ökonomische Stärke auch in politische Macht verwandeln.
       
       Am politisch wirkungsvollsten war der Sport immer, wenn er nichts anderes
       als Sport war. 1954, als die DFB-Elf ganz wesentlich zur Gründung und
       Souveränwerdung der jungen Bundesrepublik beitrug, war aus Bonn nicht mal
       ein Staatssekretär ins Berner Wankdorfstadion gereist. Und, ein noch
       stärkeres Beispiel, als 1968 Schwarze US-Athleten und -Athletinnen
       protestierten, hatte nicht nur der Sport, sondern die ganze Welt etwas von
       dieser demokratischen und antirassistischen Selbstermächtigung.
       
       Es geht also ohne Baerbock, ohne Biden und gegen Xi Jinping besser und auch
       politischer. Mögen die Spiele beginnen.
       
       30 Dec 2021
       
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