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       # taz.de -- Kraft, Wille und gute Vorsätze: Eine Frage des Selbstkonzepts
       
       > Der Ethikrat verbrennt Geld. Und eine Polaroid-Kamera kommt zum Einsatz.
       > Wie bitte? Über den Wert guter Vorsätze zum Jahresbeginn.
       
   IMG Bild: „Es ist schön zu sehen, dass Sie die Lossagung vom Materiellen so konsequent verfolgen“
       
       Kürzlich ging ich in der Dämmerung spazieren, als ich an einem kleinen
       Platz den Ethikrat um einen Grill versammelt sah. Der Ethikrat, das sind
       drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen
       in Sachen praktischer Ethik geben. Der Rat beugte sich reihum zu einem
       Koffer, entnahm ihm ein Bündel und warf es in den Grill, in dem ein kleines
       Feuer brannte. Als ich nähertrat, sah ich überrascht, dass es Geldscheine
       waren, die dort brannten, denn der Rat war bislang nicht durch üppige
       finanzielle Mittel aufgefallen.
       
       „Guten Abend“, sagte ich. „Wollen Sie sich dem [1][epikureischen Ideal
       fröhlicher Armut] annähern?“ – und stützte mich dabei auf das Wissen aus
       einem Reclam-Band, den ich zu lesen begonnen hatte, um dem Ethikrat
       wenigstens gelegentlich etwas entgegensetzen zu können. „Nun“, sagte der
       Ratsvorsitzende und warf ein Bündel ins Feuer, „wir wollen zugleich
       nachempfinden, was die [2][K Foundation] bewegte, als sie eine Million
       Pfund verbrannte.“
       
       Ich hatte noch nie von der K Foundation gehört, aber ich vermutete, dass
       sie mit den beiden britischen Musikern zusammenhing, die in den 90er Jahren
       Geld auf einer Insel verbrannt hatten und danach jahrzehntelang nach den
       Gründen befragt worden waren. Soweit ich mich erinnerte, wussten sie es
       selbst nicht so genau, aber einer von ihnen hatte gesagt, sozusagen als
       Resümee, dass die Tragweite dramatischer Gesten überschätzt würde.
       
       „Es ist schön zu sehen, dass Sie die Lossagung vom Materiellen so
       konsequent verfolgen“, sagte ich anerkennend. Der Ratsvorsitzende hustete.
       „Haben Sie möglicherweise eine Frage für uns?“, fragte er schließlich.
       „Ja“, sagte ich froh, denn ich hatte mich auf dem Spaziergang gefragt, ob
       ich zu Silvester die Tradition der guten Vorsätze wiederaufleben lassen
       sollte, die ich wegen mangelnder Erfolge aufgegeben hatte. „Ist es nicht
       auch eine Frage des Selbstkonzepts?“, wandte ich mich an den Rat. „Die
       Vorsätze sind doch wie eine Peitsche, die man nutzt, weil man annimmt, dass
       das Pferd nicht von sich aus so schnell läuft, wie es kann, sondern dass
       man alles aus ihm herausprügeln muss.“
       
       ## Keim für eine bessere Zukunft
       
       Eines des Ethikratmitglieder holte eine Sofortbildkamera aus dem Koffer und
       fotografierte den Grill, dann machte es Porträtaufnahmen des Rats vor dem
       leise knisternden Feuer. „Und andererseits“, sagte ich in der müßigen
       Hoffnung, die Aufmerksamkeit des Rates zu gewinnen, „ist doch die
       Zuversicht, die in der Annahme liegt, über sich hinauswachsen zu können,
       etwas Schönes. Und wenn es um mehr geht als um den Vorsatz, mehr Geld zu
       verdienen, ist es doch gesellschaftlich gesehen der Keim für eine bessere
       Zukunft“.
       
       „Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas“, sagte der Vorsitzende,
       während er sich lächelnd über das Feuer neigte, denn das Ratsmitglied
       wollte eine Nahaufnahme versuchen.
       
       „Oh“, sagte ich, „natürlich, ‚wo die Kräfte fehlen, ist doch der Wille zu
       loben‘, Ovid, Briefe aus dem Pontus“ – und schon während ich wiederholte,
       was aufmunternd in der Einleitung meiner Philosophiegeschichte gestanden
       hatte, überkam mich der Zorn über meinen Wunsch, den Ethikrat zu
       beeindrucken, überhaupt irgendjemanden zu beeindrucken, statt die paar
       Kräfte zu etwas Sinnvollem zu sammeln.
       
       Aber der Rat hörte mir ohnehin nicht zu, sondern vertiefte sich in die
       Betrachtung der Polaroid-Bilder. „Wäre es nicht konsequenter, die Aktion
       nicht zu dokumentieren?“, frage ich gehässig. Aber dann fiel mein Blick auf
       das letzte Scheinbündel im Koffer. „1.000 Lire“ stand dort, neben dem Bild
       einer lächelnden älteren Dame. „Oh“, sagte ich, „Sie haben auch in der Wahl
       der Banknoten die 90er Jahre nachempfunden.“ Der Vorsitzende hustete
       erneut. „Wir bemühen uns“, sagte er.
       
       31 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Epikureismus
   DIR [2] https://en.wikipedia.org/wiki/K_Foundation
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
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