URI: 
       # taz.de -- Daimler in Berlin: Aus dem Weg, ihr Gestrigen
       
       > Das historische Daimler-Werk im verschlafenen Marienfelde wird nun doch
       > nicht zugemacht. Der Konzern setzt auf Elektromotoren.
       
   IMG Bild: Herrschaften, das waren noch Zeiten! Mit dem dicken Benz in den Sommerurlaub …
       
       Berlin taz | Von Weitem leuchtet der riesige Mercedes-Stern vom Werksdach
       an der Daimlerstraße in Berlin-Marienfelde. „Wir legen den Schalter
       um“, liest man an einem großflächigen Plakat darunter. Das älteste Werk des
       Konzerns, erbaut 1902, liegt an einer Durchfahrtsstraße zum historischen
       Ortskern mit [1][der ältesten Dorfkirche Berlins] und dem sehenswerten
       [2][Museum Notaufnahmelager Marienfelde.] Baumarkt, Kleinindustrie und das
       Schnellrestaurant mit dem großen M säumen den Weg zum Daimler-Werk.
       
       Eine Werksführung wurde aus Pandemiegründen abgelehnt. Kein Problem, dann
       gibt es eben eine Ortsbegehung von außen. Das riesige Werksgelände liegt im
       südlichsten Berliner Süden und irgendwie ist dieser beschaulichere Teil der
       Hauptstadt vom Flair her zwischen westdeutscher Kleinstadt und 1990
       steckengeblieben.
       
       Bevor jetzt Protestbriefe vom Verein „Marienfelder Freunde“ oder Ähnlichem
       kommen: Come on, ich komm von hier! Und deshalb lese ich alles, was mit
       Marienfelde und dem Daimler-Werk zu tun hat. Mein Vater hat hier
       Jahrzehnte als Dreher im Werk zugebracht. Wenn er mal in Berlin ist, dann
       fährt er nach – na? – genau: Marienfelde, einfach aus nostalgischen
       Gründen.
       
       Nostalgisch ist auch der Kult, der sich rund um das Auto dreht. Eher gesagt
       das Modell aus den 80ern, das heute noch mein Herz ergreift: Der Merzer mit
       dem Lederlenkrad und den breiten Sitzen. „Schnurrt wie ein Tiger“, sagte
       mein Vater immer anerkennend, wenn wir mit unserem weißen 230E mit den
       silbernen Sternen in die Sommerferien fuhren … Und mein Papa war nicht
       allein mit seiner Liebe zum Benz: Bewundernde Blicke begleiteten uns auf
       der Fahrt und am Urlaubsort. Kein Wunder, dass in der Türkei die
       Arbeitsmigrant*innen aus Deutschland mit dem Mercedes, der als
       Statussymbol schlechthin galt, in Verbindung gebracht wurden.
       
       ## Infos nur verklausuliert
       
       Eindrücklich erzählt wird diese Liebe zum Gefährt hüben und drüben im
       Kultfilm „Sarı Mercedes“ von 1992, den man sich nur auf Türkisch, dafür
       [3][in voller Länge auf Youtube] anschauen kann.
       
       Aber zurück zum Marienfelder Werk. Dieser Standort beschäftigte unter den
       Nazis Kriegsgefangene und Fremdarbeiter*innen aus den von den
       Deutschen besetzten Gebieten und KZ-Häftlinge. [4][In diesem Marienfelder
       Werk bauten sie] Panzerwagen und Flugmotoren zusammen.
       
       Diese Infos findet man leider allzu zusammengeschraubt und verklausuliert
       auf [5][der firmeneigene Website, die zwar] das Werk Marienfelde unter der
       NS-Herrschaft erwähnt, sich aber kaum zu den im Werk beschäftigten Menschen
       äußert. „1944 ist fast jeder zweite der 63.610 Daimler-Benz-Mitarbeiter ein
       ziviler Zwangsarbeiter, Kriegsgefangener oder KZ-Häftling“, ist dort zu
       lesen, jedoch gilt diese Zahl für das gesamte Unternehmen.
       
       So richtig nach Aufarbeitung klingt das nicht. Aber das kann den Erfolg
       [6][einer der bekanntesten Marken Deutschlands] nicht trüben.
       
       ## Die erlösende Nachricht
       
       Oder fast nicht trüben, denn eigentlich sollte das älteste Werk im letzten
       Jahr geschlossen werden – über 2.000 Mitarbeiter*innen hätte das den
       Job gekostet. Im September 2020 noch hatte die Konzernleitung nicht mehr in
       Verbrennungsmotoren investieren wollen. Rund um den Jahreswechsel 2020/21
       bangten Menschen also neben der Pandemie auch noch um ihre Jobs und gingen
       dafür mehrmals auf die Straße.
       
       Im Frühjahr 2021 kam die erlösende Nachricht für die Arbeiter*innen:
       Das Werk bleibt, wird zu einem der modernsten Betriebe des Konzerns
       umfunktioniert und wird – wohl auch in Konkurrenz zu einem anderen
       Großunternehmen, welches sich gerade in Brandenburg breit macht –,
       Elektromotoren produzieren.
       
       Und während Daimler in die Zukunft blickt, geht der Blick, was die
       Vergangenheit angeht, am Werk buchstäblich ins Leere. Keine Gedenktafel,
       nichts, was an die unrühmliche Vergangenheit des ältesten und bald
       modernsten Daimler-Werks erinnert.
       
       2 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.marienfelde-evangelisch.de/index.php?id=16
   DIR [2] https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/notaufnahmelager-marienfelde
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=pxWuerGygbs&t=1523s
   DIR [4] https://archiv.labournet.de/diskussion/geschichte/zwadcberlin.pdf
   DIR [5] https://www.daimler.com/konzern/tradition/geschichte/1933-1945.html
   DIR [6] https://www.markenartikel-magazin.de/_rubric/detail.php?rubric=2&nr=38817
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ebru Tasdemir
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Daimler
   DIR Verbrennungsmotoren
   DIR E-Autos
   DIR Berlintourismus
   DIR Daimler
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schleswig-Holstein
   DIR SPD
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ehemaliger Daimler-Chef: Edzard Reuter ist tot
       
       Reuter wollte Daimler vom Autobauer zum Technologie-Imperium aufbauen – und
       scheiterte. Der Sozialdemokrat äußerte sich immer wieder politisch.
       
   DIR Staub auf Adornos Schreibtischplatte: Marxismus im Nazibau
       
       Der IG-Farben-Campus der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ist schon
       kaum noch Hochburg der Linken. Dafür mehr einfach nur Burg.
       
   DIR Hamburger Traditionslokal soll Standort wechseln: Imbiss für Zeitreisende
       
       Die Veddeler Fischgaststätte in Hamburg soll umziehen. Zwar nur ein paar
       Meter, aber die Betreiber fürchten, die Atmosphäre zu verlieren.
       
   DIR Erinnerungskultur in der Kleinstadt: Gedenken mit Abstrichen
       
       Schwarzenbek bei Hamburg ringt mit der Vergangenheit. Neu ist ein
       Gedenkstein für Zwangsarbeiter:innen – auch wenn er etwas anders
       geplant war.
       
   DIR SPD-Filz kehrt zurück: Von Genosse zu Genosse
       
       Hamburgs Finanzsenator hat einen Millionenauftrag ohne Ausschreibung an
       einen Parteifreund vergeben. Das erinnert an alte Zeiten.