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       # taz.de -- Historie des Impfens: Kampf der Weltbilder
       
       > Beim Impfen ging es schon immer um gesellschaftliche Grundsatzfragen –
       > eine kleine Problemgeschichte.
       
       Pandemien sind die politischsten aller Krankheiten. Das Prinzip Ansteckung
       macht das Verhalten des Einzelnen zum Problem aller. Schon die Konjunktur
       an Sündenböcken im Frühjahr 2020 beruhte auf dieser einfachen Erkenntnis.
       Die Ausgrenzung „chinesisch“ aussehender Menschen als „Infektionstreiber“
       suggerierte eine Lokalisierung der unbekannten Bedrohung und schuf ein
       trügerisches Sicherheitsgefühl: Die Pandemie, das waren die anderen.
       
       Mit steigenden Infektionszahlen erhielt die Pandemie ein demokratisches
       Antlitz. In ihrer berühmten Fernsehansprache warnte Angela Merkel im März
       2020 vor dem Virus, von dem „unterschiedslos jeder von uns betroffen sein“
       könne.
       
       Angesichts großer sozialer Unterschiede sowohl beim Infektionsrisiko als
       auch bei den sozialen Folgen der Eindämmungsmaßnahmen warfen solche
       Gleichheitsappelle zwar damals schon Fragen auf. Immerhin aber
       sensibilisierten sie unsere Bedrohungswahrnehmung. Nicht Viren sind das
       Problem, sondern unser Verhalten und unsere Verhältnisse. Die Ausbreitung
       der Pandemie hängt davon ab, wie wir arbeiten, leben und lieben. 2020
       lernten wir eine wichtige Lektion: Die Pandemie, das sind wir.
       
       Eine zweite Lektion erteilte uns Corona wenig später: Immunität ist
       relativ. Impfungen sind zwar das effektivste Mittel gegen Pandemien. Sie
       bieten einen hohen Schutz vor Infektionen und Erkrankungen. Ein absolutes
       Sicherheitsversprechen geben sie allerdings nicht. Die Beobachtung, dass
       mitunter auch Geimpfte ansteckend sein können, trübten die anfängliche
       Euphorie über die Erfolge des Impfprogramms.
       
       Die aktuelle Enttäuschung über die vierte Welle ist ein Beleg, wie tief
       unser Sicherheitsgefühl erschüttert worden ist. Für die Deutschen gaben
       Impfungen seit Jahrzehnten ein Versprechen auf ein seuchenfreies Leben. Und
       tatsächlich spielten Infektionskrankheiten in unserem Alltag schon lange
       keine Rolle mehr. Unser Sicherheitsgefühl war also erfahrungsgesättigt.
       Pocken, Polio, Diphtherie, Masern, Mumps und Röteln gehörten dank
       Impfprogrammen seit den 1970er Jahren einer grauen Vorzeit an.
       
       Zwar war Immunität damals schon relativ – ein hoher Schutz, aber kein
       absolutes Sicherheitsversprechen. Der nur relative Schutz war wegen der
       hohen Herdenimmunität allerdings nur für Expert:innen von Belang, nicht
       für unseren Alltag.
       
       Die plötzliche Sehnsucht nach der Impfpflicht ist auch eine Reaktion auf
       die Erschütterung unseres Sicherheitsgefühls. Die Hoffnung, mit der Pflicht
       die vierte Welle zu brechen, hegt zwar kaum noch jemand. Aber zumindest die
       fünfte oder sechste Welle könnte dank einer Impfpflicht leichter ausfallen
       oder vielleicht sogar ganz vermieden werden.
       
       ## Warum ist die Impfpflicht so umstritten?
       
       Darüber hinaus senkt Immunität die Wahrscheinlichkeit von Mutationen. Je
       mehr Menschen geimpft sind, desto geringer ist das Risiko, dass das Virus
       in neuem Gewand zurückkommt und unseren Impfschutz umgeht. Immunität sollte
       in Zukunft also globaler gedacht werden, als globales Projekt.
       
       Warum aber ist die Impfpflicht so umstritten? Was treibt eine relativ große
       Minderheit immer wieder auf die Barrikaden, wenn es um die Spritze geht?
       Eine erste Antwort lautet noch einmal: Politik. Nicht nur Pandemien sind
       politisch, [1][ihre Prävention ist es auch.] Impfungen eröffnen seit dem
       19. Jahrhundert eine Arena, in der um Weltbilder gerungen wurde und wird.
       
       In Teilen Ostdeutschlands – aber nicht nur dort – lässt sich das gerade wie
       unter einem Brennglas studieren. Hier fungiert Impfkritik als Ventil für
       eine Unzufriedenheit, die tiefer liegt als die Coronakrise. Rechte und
       Populisten haben das Mobilisierungspotenzial des Impfens schon früh
       ausgeschöpft. Im Bundestag brachte sich die AfD bereits im Mai 2020 gegen
       eine Impfpflicht in Stellung, zu einer Zeit also, in der wir von Impfungen
       gerade mal zu träumen begannen; zu einer Zeit auch, als
       Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eine Impfpflicht ebenso kontinuierlich
       wie kategorisch ablehnte.
       
       Prävention war schon immer politisch, weil sie als Chiffre für andere Dinge
       herhält. So eröffnet das Impfen eine Projektionsfläche, auf der Vertrauen
       in staatliche Einrichtungen verhandelt wird. Rechte und Populisten brachten
       Impfungen als Symbol einer „Merkel-Diktatur“ oder für das Gefühl in
       Stellung, dass „die da oben“ an der Lebenswirklichkeit vorbeiregierten.
       
       ## Mehr als rechte Propaganda
       
       Immunität diente als Ventil für den Frust, der sich seit Jahren angestaut
       hatte. Erst das Mobilisierungspotenzial in Zeiten der Pandemie macht die
       starke Impfkritik in Teilen Ostdeutschlands nachvollziehbar. Denn noch 2019
       lag die Impfakzeptanz im Osten deutlich höher als im Westen.
       
       Eine zweite Erklärung der Impfskepsis ist komplizierter, aber umso
       wichtiger. Die rechte Mobilisierung ist nur ein Teil des Problems.
       Impfprogramme öffnen weitere Spannungsfelder, auf denen um die Grundsätze
       der Gesellschaft gerungen wird.
       
       Zunächst einmal testen Impfungen die sozialen Bindekräfte. Immunität bietet
       ja nicht nur dem Einzelnen, sondern vielen weiteren Menschen Schutz. Alte
       und Vorerkrankte, die trotz Impfung ein höheres Infektionsrisiko tragen
       oder nicht geimpft werden können – sie alle sind sicherer, wenn die Quote
       steigt. Schon die Werbung für die Polioimpfung seit den 1960er Jahren trug
       diesem Phänomen Rechnung. Beim Impfen ging es damals nie nur um den
       Selbstschutz, sondern mehr noch um den Schutz der Allgemeinheit und die
       Sicherheit der Bedrohten.
       
       Die Akzeptanz von Impfungen hängt demnach von der Fähigkeit ab, das Impfen
       zu einer sozialen Frage zu machen – und überzeugende Antworten zu geben.
       Die soziale Frage zielt nicht zuletzt auf unseren Nahbereich, wo
       Risikogruppen als Mama oder Opa mit am Tisch sitzen, wo Skepsis oder
       Bequemlichkeit als Bedrohung spürbar wird. Im Zeitalter der
       Selbstoptimierung stellt sich die soziale Frage ganz besonders. Denn eine
       Pandemie verwandelt die Sorge um den eigenen Körper schnell in
       existenzielle Sorgen der Vulnerablen.
       
       ## Die Geburt des Vorsorgestaates aus dem Impfen
       
       Seit dem 19. Jahrhundert gab es gegen solche Sorgen eine einfache Lösung:
       die Impfpflicht. Die erste deutsche Impfpflicht gegen die Pocken regelte
       das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Allgemeinheit. Sorgen des
       Einzelnen vor Nebenwirkungen und „Impfschäden“ sollten zurückstehen
       gegenüber den Sorgen um die Gesellschaft.
       
       Mit der Impfpflicht wurde der Vorsorgestaat geboren, der die
       Fürsorgepflicht für seine Bürger:innen übernahm und diese notfalls zu
       ihrem Glück zwingen durfte.
       
       [2][Die Impfpflicht erwies sich als stumpfes Schwert.] Sie stachelte nicht
       nur Leugner an, die das Impfen als Teufelszeug abtaten oder als „jüdische“
       Verschwörung gegen den „Volkskörper“. Sie mobilisierte ebenso Kritiker, die
       das Impfen befürworteten, aber staatliche Interventionen ablehnten. Schon
       im 19. Jahrhundert waren das nie nur rechte Schwurbler, sondern ebenso
       Vertreter des Liberalismus und des Katholizismus.
       
       Ein stumpfes Schwert war die Impfpflicht zudem mit Blick auf Sanktionen.
       Die Zwangsimpfung mit Gewalt ließ sich schon im Kaiserreich schwer
       durchsetzen. Geld- und Gefängnisstrafen wiederum erhöhten die Impfquote
       wenig. Eltern kauften sich entweder von der Impfpflicht frei oder ein
       gefälschtes Impfzeugnis, mit dem wiederum das Risiko versteckter
       Infektionsherde stieg.
       
       Die Impfpflicht machte das Spannungsverhältnis zwischen Staat und
       Staatsbürger:in also mit Händen greifbar. Sie verschärfte den Tonfall
       der Debatte und eröffnete Nebenschauplätze, mit hohen Reibungsverlusten.
       Genervte Polizisten fragten bereits Ende des 19. Jahrhunderts im
       Reichsgesundheitsamt nach, ob die Ressourcen zur Verfolgung der Impfpflicht
       nicht besser in niedrigschwellige Angeboten investiert wären.
       
       ## Misstrauen in die Pharmaindustrie
       
       Ein weiteres Spannungsverhältnis eröffnete der Aufstieg von
       Pharmaunternehmen. Hatten bei der Pockenimpfung zunächst staatliche
       Impfanstalten die Impfstoffproduktion verantwortet, eroberten im Laufe des
       20. Jahrhunderts Unternehmen den Markt. Sie brachten dem Staat das Werben
       bei – mit Erfolg. Freiwillige Impfprogramme führten dank massiver
       Medienkampagnen zu höheren Impfquoten als die Pflichtimpfung gegen Pocken.
       
       Der Markt warf allerdings neue Fragen auf: Wer sollte für die Sicherheit
       des Impfstoffes bürgen, Staat oder Unternehmen? Unter Bürgerlichen ebenso
       wie in der Sozialdemokratie war Skepsis gegenüber Firmen verbreitet, die
       mit Gesundheit Gewinne erwirtschafteten. Skandale wie der Fall Contergan
       nährten diese Skepsis.
       
       Diskussionen um Impfprogramme sind also von besonderer Schärfe, weil es um
       fundamentale Fragen geht: Wie stark sind unsere solidarischen Bindekräfte?
       Was sollte die oder der Einzelne leisten für die Allgemeinheit? Wie weit
       darf der Staat gehen, um die Schwachen zu schützen? Und wer sorgt für
       Sicherheit, wenn es um Impfstoffe geht? Prävention ist somit ein Politikum,
       weil es nie allein um Gesundheit und Krankheit geht, sondern immer auch um
       die Grundsätze unserer Gesellschaft.
       
       Aus diesem Grund wäre es zu einfach, fehlende Impfakzeptanz nur mit rechter
       Mobilisierung oder esoterischen Zirkeln zu erklären. Wenn die Hintergründe
       für das Zögern vor der Spritze vielfältig sind, sollten Impfprogramme
       ebenso vielfältig sein.
       
       Eine klare Zielkommunikation, individuelle Entscheidungshilfen,
       Informationen für unterschiedliche Adressatenkreise und Medienformate sowie
       niedrigschwellige Impfangebote in der Fläche waren das Erfolgsrezept der
       Bundesrepublik. Bundesländer wie Bremen feiern mit Impfquoten von über 90
       Prozent heute ähnliche Erfolge. Solche Erfolge sind umso wichtiger, weil
       sie zeigen, dass Immunität als soziale Frage zu einem Projekt der vielen
       werden kann.
       
       1 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/ethikrat-impfpflicht-103.html
   DIR [2] https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Pocken-Polio-Corona-Geschichte-des-Impfens-und-seiner-Gegner,impfen446.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Malte Thießen
       
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