URI: 
       # taz.de -- Urteil im Tiergartenmord-Prozess: Gericht geht von Auftragsmord aus
       
       > Mit lebenslanger Haftstrafe und einer scharfen Anklage gegen den
       > russischen Staat endet der Prozess um die Tötung eines Georgiers 2019 in
       > Berlin.
       
   IMG Bild: Mehr als zwei Jahre wurde im Gerichtssaal zum Tiergartenmord-Prozess getagt
       
       Berlin taz | Es sind Sätze mit enormer politischer Sprengkraft. „Das war
       und ist nichts anderes als Staatsterrorismus“, sagte der Vorsitzende
       Richter Olaf Arnoldi bei seiner Urteilsverkündung im sogenannten
       Tiergartenmord-Prozess. „Die Zentralregierug der Russischen Föderation ist
       Urheberin der Tat, sie hat den Angeklagten beauftragt.“
       
       Mit einer lebenslangen Haftstrafe für den Angeklagten und einer scharfen
       Anklage gegen den russischen Staat endete am Mittwoch vor dem Berliner
       Kammergericht nach 56 Verhandlungstagen ein spektakulärer Prozess. Es ging
       um die Erschießung des georgischen Staatsbürgers tschetschenischer Herkunft
       [1][Selimchan Changoschwili] am 23. August 2019 in der Parkanlage Kleiner
       Tiergarten in Berlin-Moabit. Der kurz nach der Tat unweit des Tatorts
       festgenommene Russe habe einen „staatlichen Liquidierungsauftrag“
       ausgeführt, befand der für Staatschutzsachen zuständige 2. Strafsenat.
       
       Die entscheidende Frage des Anfang Oktober 2020 unter starken
       Sicherheitsvorkehrungen gestarteten Prozesses war: Wer ist der Angeklagte?
       Er selbst behauptet bis heute, er sei der Bauingenieur Vadim Andreevich
       Sokolov, geboren am 20. August 1970 im sibirischen Irkutsk. So steht es
       auch in seinem russischen Reisepass. Das Gericht hält es aber für erwiesen,
       dass es sich hierbei nur um eine „mit staatlicher Hilfe geschaffene
       Alias-Identität“ handelt. „Der Angeklagte heißt Vadim Nikolajewitsch
       Krasikov“, sagte der Vorsitzende Richter Arnoldi. „Alleine diese
       Feststellung ist von Brisanz.“
       
       Das ist sie ohne Zweifel. Für die Frage, ob der Angeklagte den ihm zur Last
       gelegten Mord begangen hat, ist seine Identität zwar ohne Belang: Die
       Beweise und Zeugenaussagen sind erdrückend, das Gericht sprach von einem
       „zweifelsfreien Tatnachweis“. Für die Suche nach dem Motiv und möglichen
       Hintermännern ist sie jedoch von zentraler Bedeutung.
       
       ## Angeklagter ist einschlägig aktenkundig
       
       Denn anders als der vermeintlich unbescholtene Bauingenieur Sokolov, der
       sich angeblich als Tourist in Berlin befand, ist der am 10. August 1965 in
       der Region Chimketskiy in Kasachstan geborene Krasikov einschlägig
       aktenkundig: Wegen eines 2013 begangenen Mordes, der dem in Berlin stark
       ähnelt, suchten die russischen Behörden nach ihm per internationalem
       Haftbefehl. Doch 2015 löschten sie ohne Begründung die Fahndungsmitteilung
       – wohl deshalb, weil für Krasikov eine Verwendung gefunden wurde: als
       staatlicher Auftragsmörder. Davon geht jedenfalls das Gericht aus.
       
       Spätestens im Juli 2019 hätten „staatliche Stellen der Russischen
       Föderation“ den Entschluss gefasst, den im deutschen Exil lebenden
       Changoschwili töten zu lassen. „Den Auftrag erteilten sie dem Angeklagten
       und statteten ihn mit einer neuen Identität aus“, sagte Arnoldi. „Die Tat
       war durch in Berlin stationierte Helfer akribisch vorbereitet“ und sei
       „nichts anderes als Rache und Vergeltung“ gewesen, sagte der Vorsitzende
       Richter des Staatsschutzsenats.
       
       Fest steht, dass der ermordete Changoschwili von der russischen Regierung
       als Staatsfeind betrachtet wurde. So zitierte Richter Arnoldi Äußerungen
       des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom 10. Dezember 2019, das
       Mordopfer sei ein „brutaler und blutrünstiger Mann“, der für viele
       Todesopfer verantwortlich sei.
       
       Das erste bekannte Attentat auf Changoschwili wurde 2009 verübt, ein
       Giftanschlag. Nachdem er im Mai 2015 in der georgischen Hauptstadt Tiflis
       von Schüssen eines unbekannten Täters schwer verletzt wurde, setzte er sich
       mit seiner Familie in die Ukraine ab. Im Dezember 2016 floh er weiter nach
       Deutschland. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass Changoschwili in der
       Bundesrepublik noch politisch aktiv gewesen sei, so das Berliner Gericht.
       
       Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kommentierte das
       Urteil, „dieser Mord im staatlichen Auftrag“ stelle „eine schwerwiegende
       Verletzung deutschen Rechts und der Souveränität der Bundesrepublik
       Deutschland dar“. Sie teilte mit, dass der russische Botschafter
       einbestellt worden sei und zwei Botschaftsmitglieder zu unerwünschten
       Personen erklärt wurden.
       
       Der russische Botschafter in Deutschland, Sergei Netschajew, kritisierte
       den Richterspruch scharf. „Wir halten dieses Urteil für nicht objektiv, für
       eine politisch motivierte Entscheidung, die die ohnehin nicht einfachen
       russisch-deutschen Beziehungen weiter ernsthaft belastet“, hieß es in einer
       am Mittwoch veröffentlichten [2][Erklärung des Botschafters].
       
       15 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Mord-an-Georgier/!5647073
   DIR [2] https://russische-botschaft.ru/de/2021/12/15/kommentar-des-botschafters-der-russischen-foederation-in-deutschland/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pascal Beucker
       
       ## TAGS
       
   DIR Tiergarten
   DIR Mord
   DIR Russland
   DIR Tatort Berlin
   DIR Russland
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Wochenkommentar
   DIR Tiergarten
   DIR Tiergarten
   DIR Russland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR US-Journalist vor Gericht in Moskau: Faustpfand für Putin
       
       Evan Gershkovich steht in Jekaterinburg wegen angeblicher Spionage vor
       Gericht. Putin möchte mit dem Prozess einen Gefangenenaustausch erzwingen.
       
   DIR Bellingcat-Recherchen zu Pentagon-Leaks: „Eine gewisse Besessenheit“
       
       Die Gruppe Bellingcat ist auf Recherche in frei verfügbaren, offenen
       Quellen spezialisiert. Sie hat die Quelle der Pentagon-Leaks aufgedeckt.
       
   DIR Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts: Panzer darf vor russische Botschaft
       
       Eine Stadträtin sperrte sich dagegen, dass Unter den Linden ein Panzerwrack
       aufgestellt wird. Ein Gericht lehrt sie nun, was Meinungsfreiheit ist.
       
   DIR Plädoyer im „Tiergartenmord“-Prozess: Anklage fordert lebenslange Haft
       
       2019 wurde mitten in Berlin ein Georgier getötet. Täter sei ein Russe im
       Auftrag des Kreml gewesen, so die Staatsanwaltschaft. Sie fordert die
       Höchststrafe.
       
   DIR Prozess zum „Tiergartenmord“: Welcher Vadim war es?
       
       Zum Auftakt des Berliner „Tiergartenmord“-Prozesses schweigt der
       Angeklagte. Die Bundesanwaltschaft sieht russische Staatsstellen hinter der
       Tat.
       
   DIR Mord an Georgier in Berlin: Keine Sicherheit vor Russland
       
       Geschah der Mord im Berliner Tiergarten 2019 im Auftrag Moskaus? Wenn sich
       diese Vermutung bestätigt, könnten Russland Sanktionen drohen.