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       # taz.de -- Gedanken zum Jahreswechsel: Alte und neue Geister
       
       > Das Jahr 2021 ist so gut wie vorbei, 2022 steht kurz bevor. In der
       > Zwischenzeit erscheint manches anders. Ein paar Gedanken dazu aus der
       > taz-Kulturredaktion.
       
   IMG Bild: Auf der Alster in Hamburg am 3. Advent 2021
       
       ## Das Nichtidentifizierbare als Freiheit
       
       „An manchen Montagen Ende November oder Anfang Dezember hat man, vor allem
       wenn man Single ist, das Gefühl, im Todestrakt zu sein. Die Sommerferien
       sind längst vergessen, das neue Jahr ist noch fern: die Nähe des Nichts ist
       ungewöhnlich.“ Wenn es stimmt, dass dies der erste Satz aus [1][Michel
       Houellebecqs] nächstem Roman ist, wie irgendwo behauptet wurde, will ich
       ihn unbedingt lesen. Er erinnert mich daran, dass ich mal glaubte, dass im
       Dazwischen, also zwischen dem Sein und dem Nichts, eigentlich nur glücklich
       ist, wer eh schon glücklich ist. Was eigentlich ein absurder Gedanke ist.
       
       Es muss eine Zeit der Verunsicherung gewesen sein, als ein Freund mir im
       Café Engländer den Satz „Wegen all dem, was wir werdend sind“ in sein Buch
       schrieb und ich mich fragte, wie ich hatte annehmen können, dass es ein
       Sein ohne Werden geben kann. Hatte ich das überhaupt jemals angenommen?
       Oder war es mir angesichts der Klarheit dieses Satzes nur so vorgekommen,
       als hätte ich das angenommen gehabt? Der Satz und die Freundschaft sind
       lange her. Aber wie vielleicht jeden Dezember, habe ich auch diesen, als
       die Zeit des Dazwischens nah war, den Satz erinnert. Und einen
       klitzekleinen Moment das Gefühl von Freiheit wahrgenommen. Tania Martini
       
       ## Nie wieder Krieg
       
       Das Ende der Ära Merkel fällt mit bemerkenswerten Ereignissen zusammen. So
       paddeln Nikoläuse und -läusinnen in Hamburg am 3. Advent über das kalte
       Wasser. Stand-up-Paddeln gegen Vernunft und Pandemie. Zum Jahreswechsel
       2021/22 stehen weitere große Dinge an. Zu Silvester wird das Kernkraftwerk
       in Brokdorf nach 35 Jahren Laufzeit vom Netz gehen. Gegen dieses haben
       [2][diejenigen, die heute zu Staatsmännern und -frauen gereift ins
       Kanzleramt einziehen], in ihrer Jugend noch außerparlamentarisch
       protestiert. Im Januar folgt dann ein neues Musikalbum der Band
       [3][Tocotronic].
       
       Es trägt den assoziativen Titel „Nie wieder Krieg“. Und spielt damit
       symbolisch mit Erfahrungen und Haltungen aus der späten Bundesrepublik,
       beamt sie stilistisch in die Jetztzeit. Grandios der Song „Jugend ohne Gott
       gegen Faschismus“. „Auch in schwierigen Zeiten fällt das moderne
       Deutschland nicht mehr zurück in billige Rhetorik“, sagt der britische
       Autor John Kampfner. Er hat das Buch [4][„Warum Deutschland es besser
       macht“] geschrieben. Das klingt gerade aus englischer Perspektive frech und
       charmant zugleich. Kampfner schaudert es vor dem chauvinistischen Teil
       seiner Brexit-begeisterten Landsleute. Und vor den Deutschen? Hm, wollen
       wir hoffen, dass er recht behält. Andreas Fanizadeh
       
       ## Prekäre Ankunft
       
       Nervöse Weihnachten 2021: ein Versuch, so weit wie möglich am Gewohnten
       festzuhalten, zwischen gerade erst sich abflachender vierter Welle und sich
       aufbäumender Omikron-Wand. Zum Symbol der Hilflosigkeit dieser
       Normalitätsanstrengungen sind mir die Pakete geworden. Früher kamen Pakete
       entweder an (normal) oder nicht an (Katastrophe). Inzwischen tun Pakete
       beides gleichzeitig: ankommen und nicht ankommen. Erst bekommt man vier
       Mails: Bestellung angenommen, Paket gepackt, Paket unterwegs, Paket wird
       dann und dann geliefert.
       
       Darauf kommt noch eine Mail: Konnten Sie nicht antreffen, holen Sie Ihr
       Paket da und dort ab. Diese Mail kommt auch dann, wenn man den ganzen Tag
       im Homeoffice zu Hause war; der Paketzustelldienst hat die gesamte
       Restladung kurz vor Feierabend an einem Stützpunkt abgeladen. Und die
       Entfernung zu den Abholorten wird immer länger; zuletzt musste ich zwei
       Kilometer (mit Google Maps nachgemessen) für ein Paket laufen. Dies soll
       wirklich nicht gegen die einzelnen Paketzusteller gehen. Im allgemeinen
       Paketwahnsinn des gegenwärtigen Servicekapitalismus sind sie überfordert.
       Doch ärgert man sich. Als Symbol hilfloser Normalitätsbehauptungen inmitten
       aus dem Ruder laufender Umstände funktioniert dieser Irrsinn allerdings
       ziemlich gut. Dirk Knipphals
       
       ## Corona in der Digital Concert Hall
       
       Seit Kurzem bin ich Abonnent der Digital Concert Hall der Berliner
       Philharmoniker. Ich besuche sie freilich immer bei einem Freund. Er hat,
       was ich nicht habe: einen geschätzt zwei mal drei Meter großen Fernseher
       und die entsprechende perfekte High-End-Musikanlage. Am Sonntag gab’s aus
       dem Archiv 4’33“ von John Cage. Dazu ist die Supermusikanlage unabdingbar.
       Genauso wie das volle Orchester der Philharmoniker samt Dirigent Kirill
       Petrenko: Während der gesamten Aufführungsdauer wird, wie man weiß, kein
       einziger Ton gespielt. War die Aufführung von 4’33“ in der Philharmonie am
       3. November 2020 deshalb angesetzt, weil von da an ein Lockdown bis zum 30.
       November galt?
       
       [5][War sie ein Protest gegen das Verstummen der Orchester?] Oder wollte
       sie nur als Generalpause verstanden werden, im Lockdown, nach der
       Vollbremsung des normalen Alltags mit der Hoffnung auf seine
       Wiederaufnahme? Bekanntlich dient die Unterbrechung sämtlicher Stimmen
       eines Musikstücks ja dem Spannungsaufbau. Nach dem Muster: Achtung, Gleich
       wird’s dramatisch! Gute Idee also, in Zeiten von Omikron 4’33“ noch einmal
       zu hören. Die Generalpause wird übrigens gerne mit dem Ruhezeichen der
       Fermate markiert, deren frühere Bezeichnungen laut Wikipedia „Point
       d’Orgue“ und – voilà – „Corona“ waren. Brigitte Werneburg
       
       ## Gerüchteküche bleibt kalt
       
       „Gefahr bringt Stadtvolks Geraun, voll von Groll.“ Mein Kumpel Aischylos
       wusste es schon längst: Gerüchte sind kein probates Mittel, um glaubwürdig
       Politik durchzusetzen. Vielleicht stimmte darum eine Nachricht in diesem
       eher unglamourösen 2021, was trotz Corona-Dauerwahnsinns auch ein Wahljahr
       war, umso positiver: dass die Beteiligten an den Koalitionsverhandlungen
       zur Bundesregierungsampel sich dazu verpflichteten, keine Gerüchte
       „durchzustechen“; dieses Wort erdolcht die Öffentlichkeit gleich ein
       bisschen mit. Doch die Antike ist Vergangenheit und verbale Abrüstung tut
       not.
       
       Egal, ob der Verzicht auf den Verhandlungserfahrungen von 2017 beruhte oder
       selbst wieder nur eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung von
       professionellem ehrlichem Maklertum gewesen war. Egal, ob die politische
       Kaste einfach nur ihren Coaches zugehört hat oder tatsächlich ein neuer
       sachlicher Politikstil regiert, wie früher einmal in England. Verrat,
       gezielte Diskretion, Missgunst etc. verstärken sich im medialen
       Resonanzraum zum hundsgemeinen Feedback und verhelfen dem Gerücht zu einer
       merkwürdigen Autorität. Klatsch bleibt eine stumpfe Waffe und in Zeiten von
       dynamischen Pandemiegeschehen bedarf es eben rationaler Manifestationen von
       Macht und keines Hörensagens. Julian Weber
       
       ## Sektierer aller Art
       
       Ein Fundstück aus dem „Handorakel“ von Baltasar Gracián, das nach mehr als
       370 Jahren nichts an Triftigkeit eingebüßt hat: „Nicht zu einem Ungeheuer
       der Dummheit werden. Das sind alle Selbstgefälligen, Angeber, Starrköpfe,
       Launischen, auf ihre Meinung Fixierten, Überspannten, Possenreißer,
       Spaßvögel, Neuigkeitsfanatiker, Paradoxiker, Sektierer und alle Arten von
       unausgeglichenen Menschen; Ungeheuer der Zumutung, sie alle. Jede
       Ungeheuerlichkeit des Geistes ist größer als die des Körpers, weil sie von
       der höheren Schönheit abweicht. Doch wer soll solch allgemeine Verstimmung
       zurechtrücken! Wo die Vernunft fehlt, bleibt kein Platz für Beherrschung;
       und was ein überlegter Sinn für Spott sein müsste, wird zum unberechtigten
       Prahlen über eingebildeten Beifall.“
       
       Ohne Ausnahme lässt sich das auf heutige Verhältnisse übertragen. Wird im
       nächsten Jahr wohl wenig anders sein, aber auf bessere Zeiten hoffen ist
       ja zumindest nicht verboten. Tim Caspar Boehme
       
       29 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Essayband-von-Michel-Houellebecq/!5731138
   DIR [2] /Claudia-Roth-als-Kulturstaatsministerin/!5815441
   DIR [3] /Tocotronic-zur-Corona-Krise/!5675203
   DIR [4] https://www.rowohlt.de/buch/john-kampfner-warum-deutschland-es-besser-macht-9783498002510
   DIR [5] /Ein-Jahr-Corona-in-Berlin/!5749399
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
   DIR Dirk Knipphals
   DIR Brigitte Werneburg
   DIR Julian Weber
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