URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Leckerschmecker bis ungenießbar
       
       > Frankreich leitet 2022 mal wieder die EU-Ratspräsidentschaft und jammert
       > wie stets über mehr Schein als Sein.
       
   IMG Bild: Nackend den neuen Wein bejubeln – das lieben die Franzleute
       
       Bon. Rund 1.200 verschiedene Käsesorten haben sie, sagt man. Vertilgen dazu
       zehn Milliarden Baguettes im Jahr, die Französinnen und Franzosen. Und
       jedes Frühjahr lauern deren Köche mit gezückten Messern arglosen Fröschen
       an den Amphibienwanderwegen auf. Aber zeugt es wirklich von hoher
       Esskultur, wenn sich jährlich um die 2.000 Franzosen derart schlimm beim
       Austernöffnen verletzen, dass sie einen Arzt konsultieren müssen?
       
       Oder wenn sie – vor allem in der Gascogne – Gartenammern verspeisen, die
       zwangsernährt, in Armagnac ertränkt und dann gegrillt werden? Jetzt wäre
       der Moment, darauf hinzuweisen, dass die französische Küche von einer
       Italienerin erfunden wurde: Maria de Medici. Der erste Pariser Modezar war
       übrigens, am Rande bemerkt, der Engländer Charles Worth. Und in der Ära
       Narkozy haben die Franzosen gar nicht mitgekriegt, dass sie von der
       Italienerin Carla Bruni regiert wurden, einer Femme fatale, von der der
       Satz überliefert ist: „Sein Geld hat mich nie interessiert. Ich will einen
       Mann, der über die Atombombe entscheidet!“
       
       Ihr Landsmann Niccolò Macchiavelli hat schon fünf Jahrhunderte früher
       gewusst: „Sie sind sehr demütig im Unglück, im Glück unverschämt!“ Also die
       Franzosen jetzt.
       
       Allen belegbaren Fakten zum Trotz hat Frankreich seinen Ruf als
       Gourmet-Nation Nummer eins über Jahrhunderte verteidigen können. Trotzdem
       scheinen die Engländer in weit besserer Stimmung zu sein, es war nämlich
       der Franzose Jean Cocteau, der behauptet hat: „Die Franzosen sind Italiener
       mit schlechter Laune.“
       
       ## Guter Tropfen gegen Corona
       
       Jetzt sollen sie ab Januar die EU-Ratspräsidentschaft vollstrecken. Neulich
       erst sind sie wieder verhaltensauffällig geworden, als sie versuchten, mit
       der These durchzukommen, dass ein guter Tropfen die Gefahr einer
       Covid-19-Infektion verringert. Das ist so abwegig nicht, funktioniert
       allerdings nur, wenn man sich in eine Badewanne voll mit Montrachet Grand
       Cru setzt und selbige in pandemischen Zeiten nicht mehr verlässt.
       
       Empfehlenswert auch der Estomac Derangé aus Pharmacie-les-Bains – dieser
       Wein mit seinen gut eingebundenen Holztönen und seiner animierend
       gradlinigen Säure zersetzt Depressionen, hilft bei Koronarverengung und
       sollte eigentlich verimpft werden. Auch grüner Tee und Schokolade sollen
       gegen das Virus wirken. Apropos: Bei Corona sind sie offiziell schon bei
       der fünften, der cinquième vague – und uns somit um eine Welle voraus.
       
       Seit Menschengedenken beschäftigen sich die Franzosen rund um die Uhr mit
       halbwegs gutem Essen und jammern darüber, dass la France nicht mehr eine
       großartige Nation ist, sondern eher eine Halluzination. Das europäische
       Politpersonal freut sich trotzdem riesig, endlich werden die Arbeitsessen
       wieder besser, die slowenische Hausmannskost im letzten Halbjahr war
       einfach nur schrecklich.
       
       ## Wahlen und Verwerfungen
       
       Daher sind alle doll gespannt auf Macrons erste Fressekonferenz. Das
       kommende Halbjahr könnte sich indes schwierig gestalten, denn es wird
       geteilt von den Präsidentschaftswahlen im April, außerdem erscheint das
       neue Buch von Michel Houellebecq, ein Ereignis, das zuverlässig für
       gesellschaftliche Verwerfungen sorgt. Vermutlich am 24. April heißt es
       dann: „Le bourgeois primeur est arrivé!“
       
       Quoi faire, was nun, wenn das ein gewisser und radikal rechter Monsieur
       Zemmour wird? Und was haben wir in den zumindest ersten vier Monaten von
       Monsieur Macron zu erwarten? Ein EU-Gipfeltreffen in Toulouse ist geplant,
       leider keines in Lautrec. Schön wäre es, wenn er dem Kaczyński, dem Orbán
       und dem Janša mal ordentlich in die … aber das steht kaum zu erwarten.
       
       Klare Kante gegen China? Oder eine europäische Verteidigungspolitik, bei
       der Macron auf die Viererkette von Paris Saint-Germain zurückgreift? Wir
       werden es sehen. Umstritten jetzt schon der Plan, europäische Staaten, die
       keine systematische CO2-Bepreisung installieren möchten, an Katar zu
       verschachern.
       
       In den nächsten Monaten heißt es also bleu-blanc-rouge in Europa: blau wie
       die Menschen nach einer Pastis-Orgie, kalkweiß wie die Gesichter am
       folgenden Morgen und rot wie die Wangen eines Präsidenten, der vor
       Kernenergie nur so strotzt. Allons-y! Auf geht’s!
       
       5 Jan 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas C. Breuer
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR EU-Ratspräsidentschaft
   DIR Wein
   DIR Literatur
   DIR Alkohol
   DIR Erfindungen
   DIR Gemüse
   DIR Backen
   DIR Königshaus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Heißhunger auf Buchstaben
       
       Die von den Russen lang unterdrückten Litauer feiern am 16. März den
       beliebten „Tag der Bücherschmuggler“ zu Ehren ihrer Literatur.
       
   DIR Die Wahrheit: Coole Schüttler und Rührer
       
       Am Donnerstag ist Internationaler Tag der Barkeeper. Wir mixen uns schonmal
       einen kräftigen Gedenk-Cocktail auf Eis und aufs Haus.
       
   DIR Die Wahrheit: Glimmer und Glühweinexzesse
       
       Was wäre die Welt ohne den an diesem Freitag vor 175 Jahren geborenen
       US-Erfinder Thomas Alva Edison? Eine arge Funzel.
       
   DIR Die Wahrheit: Die Nacht der Radieschen
       
       Bei der mexikanischen „Noche de Rábanos“ wird hemmungslos der Todesmystik
       des Garten-Rettichs gehuldigt.
       
   DIR Die Wahrheit: Nie wieder Stress im Christstollen
       
       „Woke am Ofen“: Es ist höchste Zeit, beim Backen aufzuwachen – was wir
       jetzt brauchen, sind beherzte Weckmänner*Innen.
       
   DIR Die Wahrheit: Dänen lügen nicht
       
       Mutti putzt das Kanzlerinnenamt – schon wieder ist Staatsbesuch angesagt.
       Doch was wollen diese Leute aus dem Norden eigentlich hier?