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       # taz.de -- Mythos und Wissenschaft: Die Entzauberung der Welt
       
       > Es mischt sich vieles bei Verschwörungsphantasten, Impfgegnern und
       > Querdenkern.
       
   IMG Bild: Straße der Angst in Bayern
       
       Im Jahr 1917 beschrieb Max Weber in seiner Schrift „Wissenschaft als Beruf“
       die Entzauberung der Welt durch intellektuelle Rationalität und
       Wissenschaft: Die Wissenschaft führe nicht so sehr zu einem „allgemeinen
       Wissen“, sondern vielmehr zum „Wissen davon oder dem Glauben daran: dass
       man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also
       prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da
       hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen
       beherrschen könne.“
       
       Man weiß es vielleicht nicht (zum Beispiel, was es mit Quantenphysik auf
       sich hat oder warum das Tauschverhältnis isolierter Warenproduzenten eine
       über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht erzeugt, die man
       „Entfremdung“ nennen muss, oder warum der Toast immer auf die gebutterte
       Seite fällt), aber es steckt eine Gewissheit des Wissens darin: Wie
       einstmals die Götter soll nun das Berechnen-Können die letzte Instanz der
       Herrschaft sein, die die unendlich suggestive und widersprüchliche Welt
       zusammenhält.
       
       Dieser Glaube an das Wissen war untrennbar mit dem Aufstieg des
       Industriekapitalismus verbunden. In der entzauberten Welt zu leben fiel
       dessen Nutznießern leicht. Denn nur als entzauberte konnte die Welt in
       Besitz, Rohstoff, Arbeitsplatz und Vergnügungspark verwandelt werden. Aber
       diese Entzauberung war kein vollständiges, kein glückliches und schon gar
       kein demokratisches Projekt. Es blieb an den Profit, den Glauben an
       Fortschritt, an Wachstum und Wohlstand gebunden.
       
       Bei jeder Krise rumorte es und verlangte nach der Rückkehr der alten
       Geister und der alten Bilder. Und am Ende kehrt sich sogar noch einmal
       alles um: Während die Entzauberung der Welt als Bestandteil ihrer
       Zerstörung erkannt wird, sind es gerade die Wissenschaftler*innen, die die
       Grenzen der Berechenbarkeit aufzeigen. Nicht nur der [1][neue Populismus]
       hält der Aufklärung entgegen: die Welt ist noch unberechenbarer und noch
       ungewisser geworden.
       
       ## Grenzen der Berechenbarkeit
       
       Damit sind gleich zwei Voraussetzungen für die anti-rationale Reaktion
       gegeben: Der Hass auf eine Wissenschaft, die nicht zur erhofften neuen
       Autorität von Schutz und Gewissheit geworden ist, und die Sehnsucht nach
       einem „alten Wissen“, das nicht aus Distanz und Abstraktion, sondern aus
       Verschmelzung mit der Welt gewonnen worden sein soll. Gewiss kann man an
       der Erzählung von der Entzauberung der Welt durch Wissenschaft und
       Intellektualität durchaus zweifeln.
       
       Niemand ist so fasziniert vom Geheimnisvollen in der Natur wie
       Wissenschaftler*innen, die ziemlich genau wissen, dass sie jedes Rätsel nur
       lösen, indem sie dahinter noch viel größere Rätsel auftun; und die
       Intellektuellen, die man wegen ihrer spöttischen Kritik gegenüber allem
       Mystifizieren fürchtet, kommen ohnehin meist im Doppelpack mit Poeten,
       Malerinnen, Musikern und anderen semantischen Zauberkünstler*innen.
       
       Von Max Webers Feststellung führt ein (vielleicht nicht ganz) direkter Weg
       zur „Dialektik der Aufklärung“, in der [2][Adorno und Horkheimer] den
       Glauben an das Wissenkönnen durchaus als „Wahn“ verstanden. Die Welt ins
       Reich der Tatsachen einzusperren war nie eine besonders gute Idee. Wer oder
       was aber wäre das Subjekt einer solchen Entzauberung? Und wem oder was
       dient die entsprechende Erzählung?
       
       Dass die Welt nicht durch Wissenschaft und intellektuelle Kritik, sondern
       durch Kapital und Arbeit (und ihren verhängnisvollen Zusammenhang)
       entzaubert wird, könnte man glatt als linkes Klischee abtun. Als
       linksradikalromantisches jedenfalls, denn, nicht wahr, dem
       Staatssozialismus war die Entzauberung der Welt doch noch viel mehr
       Anliegen als dem bürgerlichen Liberalismus. Und da ging das Projekt der zur
       Staatsraison gewordenen Aufklärung noch gründlicher schief.
       
       ## Ein neuer Zauber muss her
       
       Jedenfalls erwies es sich, dass die Entzauberung der Welt weder mit
       Erkenntnis noch mit Vernunft zu verwechseln war. Als Ideologie gebiert die
       Idee der Berechenbarkeit seit jeher kolossale Ungeheuer, und eine bessere
       Brutstätte für Irrationalität als repressive Entzauberung kann man sich
       nicht vorstellen. Mit der Entzauberung der Welt verhält es sich ähnlich wie
       mit der Entfremdung der menschlichen Produktivität:
       
       Die Mittel, die zu ihrer subjektiven Überwindung entwickelt werden,
       erweisen sich als objektive Verstärkungen. Man flüchtet, nur zum Beispiel,
       in den Traum von der Nicht-Entfremdung (der eine schaut billiges Fernsehen,
       die andere hängt sich teure Kunst ins Loft), und entfaltet dabei neue
       Kräfte der Entfremdung; man will zurück zur Natur und landet in
       [3][Disneyland], und um die Seele vor der freudianischen Kränkung zu
       schützen, sucht man nach Geistern der „Ganzheitlichkeit“ und, wahrhaftig,
       Heil bei esoterischen Kulten.
       
       Die Suche nach einer „Wiederverzauberung“ der Welt offenbart sich da als
       böse Reaktion. Nicht nur post-christliche Utopisten im Geist von Ernst
       Bloch argwöhnen es: Wie, wenn die Welt von allen guten Geistern verlassen
       sei, die bösen aber geblieben wären? Wie, wenn anders herum die
       ökonomisch-technische Vernunft im Wettlauf mit den Ungeheuern stünde, die
       sie selbst erzeugt und nie ganz domestiziert hat?
       
       Es mischt sich so vieles in den „Szenen“ und „Bewegungen“ der Impfgegner,
       der [4][Verschwörungsphantasten und Querdenker], dass ihnen mit einer
       Theorie gewiss nicht beizukommen ist. Eines der verbindenden Elemente indes
       scheint die tiefe und aggressive Ablehnung der beiden Kräfte, die man –
       fälschlich, wie gesagt – für die Entzauberung der Welt verantwortlich
       gemacht hat: Die Wissenschaft und die kritische Intelligenz.
       
       Wo man es verabsäumt hat, an der Stelle des vergangenen Zaubers einen
       Zauber der Zukunft zu finden, kehren die Geister der Entzauberung als
       gruselige Karikaturen zurück. Dass sie sich so anstandslos mit anderen
       Geistern der Anti-Moderne verbünden, wundert da nicht.
       
       5 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-Was-ist-Populismus/!5361532
   DIR [2] /Goethe-Universitaet-in-Frankfurt/!5209907
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=-kk31Bu7kFw
   DIR [4] /Querdenker-und-Coronaleugner/!5815542
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Georg Seeßlen
       
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