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       # taz.de -- Die Wahrheit: Der Tod in der Spielstraße
       
       > Kommt der Zeitreisende in der Gegenwart des Jahres 2022 an, wünscht er
       > sich rasch in die Steinzeit mit ihren klaren Köpfen zurück.
       
   IMG Bild: Sieb auf dem Dez – und die Welt ist gerettet
       
       Wer per Billigzeitmaschine auch nur aus dem Jahr 2019 in die heutige Zeit
       versetzt würde, dürfte sich in einer schlechten Sci-Fi-Komödie wähnen. Und
       hätte man ihm zuvor erzählt, er würde in eine Welt reisen, in der es
       Fälscherwerkstätten und einen Schwarzmarkt für gefakte Impfausweise gäbe,
       hätte er ungläubig gelacht. Impfausweis? Das war doch dieser zerfledderte
       Lappen mit dem Frakturschriftstempel eines ehemaligen NS-Arztes neben dem
       Eintrag von 1966 für Pocken. Oder war das Pest? Wer sollte so was
       nachmachen und warum? Das Freischwimmerabzeichen oder die
       Karstadt-Kundenkarten, okay. Aber Impfausweise?
       
       Kopfschüttelnd säße der Zeitreisende vor dem Fernseher. Dort spricht ein
       Virologe (?) oder so, es ist nicht zu glauben. In den Hauptnachrichten!
       Irgendwas mit irgendeiner Krankheit. Noch vor zwei Jahren hätte das niemand
       bringen können. Was ein Virologe in der „Tagesschau“ sagt, hätte die Leute
       weniger interessiert als ein Hundefrisör, den kapiert man wenigstens noch.
       Der Wissenschaftler benutzt jedoch Begriffe, die es vor zwei Jahren noch
       gar nicht gab. „Inzidenz“, „Alterskohorte“, „Hospitalisierung“. Fehlt nur
       noch der „Klingonensturm“. Wer kein humanistisches Gymnasium besucht hat,
       kann im Grunde nur die Bilder gucken. Der Zeitreisende spürt eine starke
       Migräne im Anflug.
       
       Er stellt den Fernseher leise und blickt aus dem Fenster auf die Straße, wo
       Heilpraktiker und Hippies gemeinsam mit Nazis demonstrieren. Das ist ja
       ulkig, denkt er. Aber schön, dass die sich so gut vertragen – das ist ja
       wie im Paradies, mit dem Lämmchen und dem Löwen. Am Rande der Demo werden
       Journalisten verkloppt. Wer weiß, was die wohl ausgefressen haben. So weit
       er zwischen ihren Schmerzensschreien heraushören kann, geht es um
       Grundrechte, Freiheit und Demokratie. Dass sich gerade Rechtsradikale so
       sehr um die Demokratie sorgen, ist neu, denkt der Zeitreisende. Das macht
       Hoffnung.
       
       ## Verachtung für Demokratie
       
       Vielleicht ist das hier eine bessere Welt, denn in der von 2019, aus der er
       kommt, verachteten die Rechten alles, was nur im Entferntesten an
       Demokratie erinnerte. Das war richtig unangenehm, da konnte man fast Angst
       bekommen. Schreckliche Menschen eigentlich, hatte er gedacht. Nun sind sie
       offenbar die treuesten Hüter der Bürgerrechte. Eine feine Entwicklung. „Das
       ist toll“, ruft der Zeitreisende und klatscht begeistert in die Hände.
       
       Ein anderer Zeitreisender, der mit einer noch billigeren Zeitmaschine nur
       bis ins Jahr 2020 gereist wäre, hätte noch mehr gestaunt. Er hätte gesehen,
       wie Batik-Freaks mit Nudelsieben auf dem Kopf den Reichstag stürmen, weil
       ihnen irgendwas nicht passt. Wahrscheinlich würde er beschließen, dass er
       das Gesehene gar nicht gesehen hat. Das kann ja nicht sein, der Reichstag
       ist immerhin der Sitz des Parlaments. Den würde man doch gut bewachen.
       Bestimmt unterliegt er gerade Wahnvorstellungen – so eine Zeitreise ist
       superstrapaziös für Kreislauf und Psyche. Er entscheidet sich dafür, die
       Beobachtung nicht zu notieren und sie nach der Rückkehr in sein
       Herkunftsjahr geheim zu halten.
       
       Nach einer Weile in der fremden Zeit lernt der Kurzzeitreisende eine neue
       Diskussionskultur kennen, die auch politische Entscheidungen prägt. In der
       Zeit, aus der er kommt, herrschten noch andere Findungsprozesse: Wenn da
       von 100 Leuten 10 darauf bestanden hätten, dass in Spielstraßen jedes
       Tempolimit aufgehoben wird, hätte der Gesetzgeber jenen 10 Prozent aber
       ganz old school den Vogel gezeigt. So ging man noch 2019 mit den Flausen
       von Bekloppten um.
       
       ## Minderheit der Raser
       
       Doch nun genügt es, wenn eine Minderheit der Raser sagt, „Man weiß doch gar
       nicht, ob da überhaupt jemand spielt“ oder „Je schneller man da durchfährt,
       desto eher ist die Gefahr für die Kinder auch wieder vorbei“ oder „Mit den
       Kindern, die es erwischt, kann ja schon vorher etwas nicht gestimmt haben –
       das ist wie bei Vögeln, die die Katze kriegt“ – und sofort reagiert die
       Politik mit der Mahnung, sämtliche Positionen seien ernst zu nehmen, und
       beschließt dann als Kompromiss eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 80
       in der Spielstraße. Nicht umsonst beschrieben bereits im klassischen Athen
       die Väter der Demokratie diese treffend als „bunten Sprühdurchfall an der
       Wand einer Gummizelle“.
       
       Der Zeitreisende glaubt sich in einem Fiebertraum. Denn sobald jemand die
       Raser beschimpft oder kurz die Contenance verliert, schlaumeiern führende
       Pop-Intellektuelle, er spalte die Gesellschaft und verletze Menschen in
       ihrer gleichberechtigten Meinung. Schließlich könne man alles so oder so
       sehen: Schnell Auto zu fahren, sei auch eine Art Spiel auf der Straße, und
       Hauptsache die Kinder sind an der frischen Luft.
       
       So verlaufen Diskurse nur zwei Jahre nach 2019. Der Zeitreisende aber
       wünscht sich längst in die Steinzeit zurück, da hatten die Leute wenigstens
       noch einen klaren Kopf.
       
       7 Jan 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
       ## TAGS
       
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