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       # taz.de -- Ein Jahr nach dem Sturm aufs US-Kapitol: Es wird wieder geschehen
       
       > Der 6. Januar 2021 ist nicht Geschichte. Die geistige Grundhaltung der
       > Kapitolstürmer*innen hat sich weltweit ausgebreitet – auch zu uns.
       
   IMG Bild: Am 6. Januar 2021 stürmte ein von Donald Trump angestachelter Mob das Kapitol
       
       Manchmal verströmen Jahrestage wichtiger Ereignisse das angenehme Gefühl,
       eine Situation, die sich im Moment ihres Geschehens sehr bedrohlich
       angefühlt hat, gehöre nun wirklich der Vergangenheit an.
       Historiker*innen können übernehmen, bei jünger zurückliegenden
       Ereignissen vielleicht noch Staatsanwaltschaften oder
       Untersuchungsausschüsse.
       
       Doch der [1][6. Januar, an dem vor einem Jahr ein von Donald Trump
       aufgestachelter Mob das Kapitol in Washington stürmte], um die Bestätigung
       des Wahlsiegers Joe Biden als zukünftigem US-Präsidenten zu verhindern, ist
       noch nicht Geschichte. Im Gegenteil: Die geistige Grundhaltung der
       Kapitolstürmer*innen hat sich weltweit ausgebreitet, auch zu uns. Es
       sind, auch in scheinbar gefestigten Demokratien, mehr Menschen denn je, die
       sich in oder kurz vor einem Endkampf gegen ein von dunklen Mächten
       kontrolliertes System wähnen.
       
       Die USA sind dabei nur die Blaupause. Gerade einmal 60 Prozent der
       US-Amerikaner*innen sind der Meinung, dass Joe Biden rechtmäßig Präsident
       geworden sei. Das sind ein bisschen mehr, als ihn im November 2020 gewählt
       haben, immerhin. Und längst nicht alle 40 Prozent, die bis heute Donald
       Trumps Lügen glauben, er sei durch Betrug um den Wahlsieg gebracht worden,
       würden deshalb zu Gewalt greifen. Jedenfalls noch nicht.
       
       Aber: Sie sind ernsthaft und tief überzeugt der Meinung, dass mit Joe Biden
       ein illegitimer Präsident im Weißen Haus sitzt. Das ist eine vollkommen
       andere Qualität der Abscheu gegenüber institutioneller Politik als das
       normale Gemecker über „die da oben“, das alle Demokratien als ärgerliches,
       aber wohl nicht abzustellendes Grundraunen begleitet. Mehr Misstrauen als
       die Überzeugung, jemand sei wirklich zu Unrecht an der Macht, geht nicht.
       
       ## Ein in sich selbst geschlossenes Lügengewebe
       
       Eine solche Überzeugung bringt auch das Gefühl mit sich, dazu legitimiert
       zu sein, ebendiese unrechtmäßige Situation zu überwinden, zur Not mit
       Gewalt. Und das nicht im Namen eines nationalistischen oder faschistischen
       Umsturzes, sondern zur Rettung der demokratischen Verfassung.
       
       Dass diese Weltsicht in sich logisch erscheint, ist aber eben nur möglich,
       wenn ein tiefgehendes und in sich selbst geschlossenes Lügengewebe in
       hinreichend großen, sich gegenseitig bestätigenden Kreisen als
       unumstößliche Wahrheit akzeptiert wird.
       
       Und ebendas eint die verschiedenen Bewegungen in verschiedenen Kontinenten
       und inhaltlichen Zusammenhängen. Trump hat die Wahl gewonnen, nachdem ihm
       vier Jahre lang ein geheim agierender „Deep State“ das Leben schwer gemacht
       hat; es gibt einen geheimen Plan zum Austausch der (weißen) Bevölkerung;
       der Chef des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, ist der Kopf eines
       Geheimbundes zur Errichtung einer Neuen Weltordnung; der Klimawandel hat
       mit CO2-Ausstoß nichts zu tun; die Corona-Impfungen dienen wahlweise zur
       Kontrolle oder Ausrottung der Menschheit oder bestensfalls zur
       Profitsteigerung der Pharmakonzerne, keinesfalls aber dem Schutz vor einer
       Pandemie, die vermutlich eine reine Erfindung ist; alle klassischen Medien
       sind regierungshörige Instrumente der Herrschaftssicherung, die
       Zehntausende von Impftoten verschweigen; die traditionelle Familie wird
       durch frühkindliche Queer-Indoktrination an den Schulen zerstört;
       [2][Gendersternchen und Cancel Culture] unterdrücken jede Dissidenz. Und
       so weiter.
       
       ## Träume der Rechtsextremen
       
       Trump hat den Aufbau solcher Lügengebäude nicht begonnen, die gab es schon
       vor ihm, aber er hat seine vier Jahre im Amt genutzt, um sie vom
       politischen Rand in die Mitte zu tragen. Und mit den
       Republikaner*innen steht inzwischen eine von nur zwei großen Parteien
       recht geschlossen für derartigen Wahn. Im Ergebnis ist in den USA ein
       wirklich großer Teil der Bevölkerung für eine auf Fakten basierende
       Diskussion gesellschaftlicher Handlungs- und Entscheidungsoptionen nicht
       mehr zu erreichen – wird aber gleichzeitig ob der eigenen gefühlten
       Ohnmacht immer wütender.
       
       Mit solch einer Konstellation gehen lang gehegte Träume rechtsextremer
       Parteien, Neonazi-Gruppen und ihrer Strateg*innen in Erfüllung. Und
       natürlich haben sie an ihrer Entstehung kräftig mitgewirkt, idealerweise
       unsichtbar oder getarnt in der Anonymität des Netzes.
       
       Noch vor einigen Jahren brummelten sie unter sich vom „Tag X“. In den USA
       stand das – etwa in der unter Pseudonym veröffentlichten Fiktion der
       „Turner Diaries“ des inzwischen verstorbenen US-Nazis William Pierce – für
       den Tag, an dem die multiethnische Gesellschaft zerschlagen, die Schwarzen
       an den Laternen aufgehängt und die weiße Vorherrschaft wiederhergestellt
       würde. In Deutschland ging es meist um eine Überwindung der mutmaßlich
       weiterbestehenden Besatzung, die Zerschlagung der „Marionettendemokratie“,
       die Wiederherstellung deutscher Souveränität und die ethnische Säuberung
       per Ausweisung aller als Ausländer*innen charakterisierten
       Nicht-Weißen.
       
       Das waren Positionen, um die bis auf wenige Fanatiker*innen eigentlich
       alle einen großen Bogen machten, selbst bei Teilsympathien für einzelne
       auch unter bürgerlichen Konservativen geteilte Aussagen. Die Suche nach
       Anschlussfähigkeit der extremen Rechten innerhalb der Demokratie ist so alt
       wie sie selbst, aber so richtig geklappt hat das bislang selten. Nicht
       umsonst begann schon Pierce seinen „Roman“ mit der Idee, das endgültige
       Zeichen der Regierungsübergriffigkeit mit dem Ziel der Knechtung sei es,
       „wenn sie anfangen, euch die Waffen wegzunehmen“ – das passt auf jeden
       Versuch, in den USA strengere Waffenkontrollgesetze einzuführen.
       
       In Deutschland waren es der Zugang Geflüchteter 2015 und noch mehr die
       Maßnahmen der Coronabekämpfung, die der extremen Rechten die Chance boten,
       ihr Narrativ vom äußersten Rand in breitere Gesellschaftsteile zu tragen.
       Die Reichsflaggen und QAnon-Symbolik bei den „Querdenken“-Demonstrationen
       sind kein Zufall. Dass sie mit der AfD sogar eine Partei haben, die solchen
       Positionen in allen Landtagen und dem Bundestag eine Stimme gibt, ist der
       vermutlich größte Erfolg der Demokratieabschaffer in der Geschichte der
       Bundesrepublik.
       
       Inzwischen ziehen, unterstützt oder oftmals direkt organisiert von der AfD,
       dem III. Weg oder lokalen Nazigruppen, allmontäglich Tausende gegen die
       Coronamaßnahmen durch die Innenstädte selbst kleinerer Ortschaften. Viele
       sind dabei, die bislang nicht zu diesem Spektrum gezählt werden konnten.
       
       In Ermangelung eines anderen Narrativs, das ihrem Frust über bald zwei
       Jahre Pandemie Sinn und Ausdruck geben könnte, sind sie ein gefundenes
       Fressen für die rechten Ideolog*innen, die – ganz wie die
       Kapitolstürmer*innen – damit argumentieren, unheilvolle Mächte
       beraubten die einfachen Bürger*innen ihrer verfassungsmäßig
       garantierten Rechte. Wer Corona für nicht so schlimm hält, schon immer
       gegen Impfungen war oder schlicht von der Situation die Nase voll und
       Schwierigkeiten damit hat, die triste Realität einer weltweiten Pandemie
       anzuerkennen, findet die passenden Erklärungen.
       
       Die Aufrufe der Bundesregierung, der alten wie der neuen, nunmehr auch die
       neueste Welle der Pandemie in einer gemeinsamen Anstrengung aller zu
       bekämpfen, samt Booster und womöglich weiterer Impfung, wirken als
       Bestätigung für alle, die auf das Interpretationsmuster eines übergriffigen
       Staats im Interesse undurchsichtiger Mächte eingeschwenkt sind.
       
       Der 6. Januar ist weit von seiner Historisierung entfernt. Es ist nur eine
       Frage der Zeit, bis sich Ähnliches wiederholt, auch bei uns. Der kleine
       „[3][Reichstagssturm“ im August 2020] war Kindergarten im Vergleich zu dem,
       was da kommen kann.
       
       7 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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