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       # taz.de -- Bestandsaufnahme der EU: Im europäischen Zwischenland
       
       > Die EU ringt um Stabilität. Am Ende der Pandemie zeigt sich, dass wir
       > aufeinander angewiesen sind. Das ist eine Chance für engere
       > Zusammenarbeit.
       
       Politische Stabilität ist keine Selbstverständlichkeit. Das hat die
       Erstürmung des Bundesparlaments in den USA vor einem Jahr nachdrücklich in
       Erinnerung gerufen, in einer mehr als 230 Jahre alten Union. Auch die
       wesentlich jüngere Europäische Union, Rechtsgemeinschaft und
       Friedensgarantin in der alten Welt nach den fürchterlichen Erfahrungen
       zweier Weltkriege, erscheint weniger denn je als dauerhaft gesichert.
       
       Zurück zum Nationalstaat war vielerorts der erste Reflex nach Ausbruch der
       [1][Pandemie im Frühjahr 2020]. Längst überwunden geglaubte Grenzen wurden
       wieder sichtbar, Schlagbäume, Grenzkontrollen, Einreisesperren. Die
       europäische Integration ist indessen nicht nur wegen der Pandemie in der
       Defensive.
       
       Nach der [2][Eurokrise ab 2010], der sich anschließenden Flüchtlingskrise,
       dem Endlosdrama um den [3][britischen Austritt] und nun der
       Rechtsstaatskrise insbesondere in Polen und Ungarn ist die europäische
       Integration seit mehr als einem Jahrzehnt im Krisenmodus, in ungesichertem
       Terrain – in einem Zwischenland. Keine der Krisen kann als sicher
       überwunden gelten. Vor allem die [4][Rechtsstaatskrise in Polen] betrifft
       die Substanz der EU als Rechtsgemeinschaft.
       
       Es geht dort nicht um vereinzelte Rechtsverstöße, sondern den systemischen
       Umbau zu einem Land ohne unabhängige Gerichtsbarkeit. Den aktuellen
       Machthabern geht es dabei vorrangig um die Sicherung dieser Macht.
       Unabhängige Gerichte und europäische Beobachtung stören da nur. Eine
       unabhängige Gerichtsbarkeit ist aber Beitrittsvoraussetzung und damit
       Geschäfts- und Vertrauensgrundlage für das rechtliche Miteinander in der
       EU.
       
       ## Polen rauswerfen geht nicht
       
       Schon deswegen kann von einer rein innerpolnischen Angelegenheit keine Rede
       sein. Es geht um die Frage, ob Polen in dieser Verfassung noch Mitglied der
       EU bleiben kann. Das große Problem der EU ist dabei, dass man einem
       Mitgliedstaat nicht einfach kündigen kann, anders als übrigens beim
       Europarat, dort ist ein Rauswurf möglich. Entsprechend macht die
       Europäische Kommission, was sie machen kann:
       
       Sie geht mit den Mitteln des Rechts gegen den Rechtsstaatsabbau vor, mit
       Vertragsverletzungsverfahren und Zwangsgeldern. Bisher war dies nur
       begrenzt wirksam. [5][Zwangsgelder in Höhe von 1 Million] Euro pro Tag sind
       für einen Staatshaushalt gut verkraftbar, und selbst der zwischenzeitlich
       eingeführte, aber noch vom EuGH auf seine Kompetenzmäßigkeit zu prüfende
       Rechtsstaatsmechanismus, mit dem EU-Haushaltsmittel gesperrt werden können,
       dürfte nur begrenzte Reichweite entfalten.
       
       Anders verhält es sich mit der Sperre der zur Pandemiefolgenbewältigung
       aufgelegten Wiederaufbauprogramme, wo es um [6][Größenordnungen von 40 bis
       60 Milliarden Euro] geht. Dies würde in Polen spürbar sein. Die Eskalation
       des Streits kann zum Austritt führen, es besteht freilich auch das Risiko
       des „dirty remain“: der Nichtaustritt bei kontinuierlicher Sabotage aller
       innerunionalen Vorhaben, die Einstimmigkeit erfordern. Ein schneller Ausweg
       aus dem Dilemma zeichnet sich nicht ab.
       
       Wirklich gefährlich an der Entwicklung in Polen ist vor allem die offen
       aggressiv beanspruchte bedingungslose Vorfahrt des Nationalstaates, gegen
       jede eingegangene rechtliche Bindung. Dieses Zurück zum Nationalstaat ist
       kein isoliertes Phänomen, was der Beifall aus Ungarn wie auch die
       verstörend nationalistischen Töne aus dem konservativen Spektrum in
       [7][Frankreich] indizieren. Der [8][Koalitionsvertrag] der Ampelregierung
       bezieht scheinbar klare Stellung in Sachen Rechtsstaatlichkeit.
       
       ## Verstörende Töne aus Frankreich
       
       Die Bundesregierung will bei den Entscheidungen über Mittel aus dem
       Wiederaufbaufonds nur zustimmen, „wenn Voraussetzungen wie eine unabhängige
       Justiz gesichert sind“. Genau gelesen macht man dies aber abhängig von den
       Vorschlägen der Kommission. Auch sonst verliert der Koalitionsvertrag eher,
       je länger man die Europapassagen liest.
       
       Dass die bisher in Deutschland weitgehend unbeachtet gebliebene, nur sehr
       schleppend in Gang gekommene Konferenz zur Zukunft Europas „in einen
       verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem
       föderalen europäischen Bundesstaat führen“ sollte, lässt zunächst
       aufhorchen. Derartige legal science fiction findet sich für gewöhnlich eher
       in Grundsatzprogrammen, wo sie auch ihre Berechtigung hat, nicht im
       Regierungsfahrplan für die nächsten vier Jahre.
       
       Aus europaverfassungsrechtlicher Sicht stellen sich sofort Fragen. Nicht
       nur weil es keine „nicht-föderalen“ Bundesstaaten gibt und man für einen
       Bundesstaat mindestens noch einen Mitstreiter bräuchte – unter den anderen
       Mitgliedstaaten weit und breit nicht in Sicht. Die Eingliederung
       Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat ist zudem insbesondere mit
       der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG nicht vereinbar.
       
       Es wäre also eine Grundgesetzänderung oder gar eine völlig neue deutsche
       Verfassung erforderlich – eine rechtliche Revolution. Wollte man das
       ernsthaft, dann würde man es doch weiter vorne im Text ansprechen,
       jedenfalls aber einen verfassungsrechtlichen Pfad zum Bundesstaat
       skizzieren. Noch befremdlicher ist der Koalitionsvertrag mit der
       Zielsetzung, der Europäische Gerichtshof solle nationales Recht ohne jeden
       EU-Bezug an europäischen Grundrechten messen können.
       
       ## Koalition zeigt Gestaltungswillen
       
       Auch dies käme einer rechtlichen Revolution gleich, aus verfassungs- wie
       europarechtlicher Perspektive, für die weder in Deutschland noch in der EU
       die erforderlichen verfassungs- und vertragsändernden Mehrheiten in Sicht
       sind. An diesen Stellen mangelt es dem Koalitionsvertrag an
       Ernsthaftigkeit.
       
       Eine denkbare Erklärung dafür wäre, dass in den Verhandlungen viele
       EP-Abgeordnete die Feder geführt haben und dabei möglicherweise so etwas
       wie eine Wunschliste erstellten, die in der Folge dann asymmetrischerweise
       vor allem die nationalen Abgeordneten abzuarbeiten haben. Als positive
       Deutungsmöglichkeit bleibt immerhin, dass hier europäischer
       Gestaltungswille dokumentiert ist, der sich deutlich von der alten
       Regierung absetzt.
       
       Deren Europapolitik kann im Wesentlichen als reaktiv passiv beschrieben
       werden. Auf [9][Emmanuel Macrons Sorbonne-Rede] zur Zukunft der EU 2017
       hatte es aus Deutschland nie eine konzeptionelle Antwort gegeben. Für einen
       konkreten Gestaltungswillen jedenfalls in Teilen der Koalition spricht auch
       die Art und Weise, wie sich die Grünen in den Ministerien und im Bundestag
       die Europaschaltstellen gesichert haben. Dies wird aber nicht reichen.
       
       Erstens weil der europäische Bundesstaat in Frankreich und anderswo eher
       als eine Art europapolitische „Dicke Bertha“ denn als ernst gemeinte
       konzeptionelle Antwort verstanden werden dürfte. Immerhin wird Macrons
       Leitmotiv von der europäischen Souveränität aufgegriffen. Das ist indes
       ein vor allem nach außen in die Welt gerichtetes Konzept, das für die
       innereuropäische Zukunftsdiskussion wenig aussagt.
       
       Zweitens aber wird es wohl auch künftig für die europapolitische
       Positionierung Deutschlands zentral auf den Kanzler ankommen. Ob und was
       Olaf Scholz in Sachen Europa vordenkt, ist unklar. Mit der Sentenz vom
       Hamilton-Moment anlässlich der EU-Schuldenaufnahme, deutbar als Annahme
       einer Parallele zur Entstehung der amerikanischen Union, hat er im Frühjahr
       2020 Aufsehen erregt. Das alleine geht als überzeugendes Gegenkonzept zu
       den Neonationalisten indes nicht durch.
       
       Eine Antwort auf Macrons Sorbonne-Rede steht aus. In der Pandemie ist die
       EU dann ja doch noch sichtbar geworden. Am Ende des zweiten Pandemiejahres
       hat sich herumgesprochen, dass die EU im Bereich der Gesundheitspolitik
       deswegen wenig zu melden hat, weil sie von den Mitgliedstaaten ganz
       absichtsvoll mit mageren Zuständigkeiten ausgestattet wurde. Viel mehr als
       beobachten, informieren und koordinieren darf die EU nicht.
       
       Entsprechend blass ist das „europäische RKI“, das [10][ECDC] (European
       Centre for Disease Prevention and Control) bisher geblieben. Die
       Europäische Arzneimittelagentur EMA kennt dafür mittlerweile fast jeder.
       Nach anfänglichem Ruckeln hat die gemeinsame Impfstoffbeschaffung wohl doch
       bessere Ergebnisse erbracht als ein nationaler Überbietungswettbewerb. Über
       die EU ist es gelungen, Wiederaufbaumittel für die Mitgliedstaaten in
       enormer Höhe zu generieren.
       
       ## Die Pandemie kümmert Grenzen wenig
       
       In der wechselseitigen Anteilnahme an den jeweils anderen nationalen
       Entwicklungen ist vielen Unionsbürgern auch die wechselseitige Abhängigkeit
       in der EU klarer geworden und dass eine weltweit wütende Pandemie sich
       nicht um Grenzen schert. Zu den Lehren aus der Pandemie wird gehören, dass
       sich der territoriale Nationalstaat mit seinen Bindungskräften und seinen
       Machtmitteln alles andere als überwunden gezeigt hat.
       
       Dies wird als Argument für ein Zurück zum Vorrang des Nationalstaates
       verwendet werden, wie sich in Frankreich im beginnenden
       Präsidentschaftswahlkampf schon zeigt. Gleichwohl bleibt, was die
       Neonationalisten propagieren, eine Sackgasse. Es hat sich nämlich auch
       einmal mehr die relative Machtlosigkeit des Nationalstaates bei globalen
       Problem- und Gefährdungslagen bestätigt.
       
       Dies gilt nicht nur für pandemische Gesundheitsgefahren, sondern auch für
       Fragen der Migration, Klimawandel, innere und äußere Sicherheit. Zwar kann
       europäische Zusammenarbeit auch bedeuten, dass Kompromisse nötig sind und
       wie auch sonst in der Demokratie andere Mehrheiten ertragen werden müssen,
       wie aktuell die Taxonomie-Debatte um die Einordnung der Kernkraft belegt.
       
       Auch verfügt das rationale Projekt einer europäischen Rechtsgemeinschaft
       nicht über die Pathosvorräte des Nationalen und kann in diese Richtung
       wenig Halt anbieten. Insgesamt dürfte aber am Ende der Pandemie doch für
       die übergroße Mehrheit die Einsicht stehen, dass wir Europäer aufeinander
       angewiesen sind und dass es eher mehr als weniger verrechtlichter
       übernationaler Zusammenarbeit in Europa bedarf. Dieses Momentum gilt es zu
       nutzen.
       
       8 Jan 2022
       
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   DIR [7] https://www.theguardian.com/world/2021/dec/05/valerie-pecresse-the-bulldozer-who-would-be-frances-first-female-president
   DIR [8] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
   DIR [9] https://www.europa-union.de/ueber-uns/meldungen/aktuelles/europa-rede-von-emmanuel-macron/
   DIR [10] https://www.ecdc.europa.eu/en
       
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