# taz.de -- Sport und politische Propaganda: Wer Sport liebt, boykottiert ihn
> Es ist besser, bei den Olympischen Winterspielen in Peking und der
> Fußballweltmeisterschaft in Katar nicht mitzumachen. Ein Boykott kann
> kreativ sein.
IMG Bild: Auf einem Turm in Peking: Warten auf den 5. Ring
Machen wir uns nichts vor: Was die internationalen großen Sportevents
betrifft, wird 2022 ein Jahr des Grauens. Ein Jahr der Festspiele von und
für Diktatoren, Despoten und Demokratieverächter. Die Olympischen
Winterspiele (vom 4. bis zum 20. Februar 2022 in Peking) und die
Fußball-Weltmeisterschaft (vom 21. November bis zum 18. Dezember in Katar)
finden an zwei Orten statt, die übler nicht gewählt sein könnten. Jegliche
denkbare Kriterien für solche Veranstaltungen – sportliche Tradition,
geografische Lage, menschenrechtliche und demokratische Mindeststandards,
ökologische Faktoren et al. – sprechen gegen diese Orte. Und nun? Soll man
die Wettbewerbe boykottieren? Wenn ja, wer und wie? Und würde das überhaupt
etwas bringen?
Es lohnt, noch einmal genau zu rekapitulieren, welche Länder es sind, die
von den Weltsportverbänden IOC und Fifa auserkoren wurden und somit eine
Imagepolitur erhalten. Da wäre zunächst China, das sich bestimmt mit
prächtigen Stadien, Kunstschneepisten und fahnenschwenkenden Fans als neues
Wintersportmekka und als weltoffenes Land präsentieren wird.
Derweil werden in der Provinz Xinjiang Uiguren weiter unterdrückt,
gefoltert und ermordet, ein von Völkerrechtlern zusammengestelltes
Expertengremium kam kürzlich zu dem Schluss, dies [1][als Genozid
einzustufen]. In Hongkong werden die letzten unabhängig arbeitenden
[2][Journalisten verhaftet] oder machen ihren Laden [3][„freiwillig“
dicht], und von Tibet haben wir da noch gar nicht gesprochen. Es ist
nachvollziehbar, wenn IOC-Experte Jens Weinreich [4][in der Berliner
Zeitung ] zu dem Schluss kommt: „Die Winterspiele von Peking darf und muss
man mit den Olympischen Spielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen und Berlin
vergleichen.“ Nachrangig wirkt es da fast, dass Peking keine nennenswerte
Wintersporttradition hat oder dass in Yanqing für Skipisten ein
[5][Naturschutzgebiet plattgemacht] wurde und dort Millionen Liter Wasser
durch Schneekanonen gepumpt werden. „Sportlich“ machte China übrigens
zuletzt damit Schlagzeilen, dass [6][Tennisspielerin Peng Shuai] nach einem
zunächst geäußerten Missbrauchsvorwurf gegen einen chinesischen
Spitzenpolitiker mutmaßlich mundtot gemacht wurde.
In Katar arbeiteten dagegen Tausende migrantische Arbeiter unter horrenden
Bedingungen als Leibeigene auf den WM-Baustellen. Viele von ihnen starben.
Der [7][Guardian recherchierte] vergangenes Jahr, dass mindestens 6.500
Gastarbeiter zwischen 2010 und 2019 in Katar ums Leben kamen – viele von
ihnen waren nur wegen der WM und der zu schaffenden Infrastruktur im Land.
Welche Todesfälle genau den WM-Baustellen zugerechnet werden können, ist
auch aufgrund der fehlenden Dokumentation schwer zu sagen: Die Todesfälle
wurden in Katar meist nicht untersucht oder es wurden bloß nichtssagende
Todesursachen wie „Kreislaufversagen“ diagnostiziert, wie [8][Amnesty
berichtet].
Gebessert hat sich bis heute kaum etwas. Das sogenannte „Kafala-System“,
das die Quasi-Sklavenarbeit ermöglicht, wurde auf dem Papier zwar
abgeschafft, [9][besteht aber realiter vielerorts fort]. In politischer
Hinsicht ist Katar ähnlich problematisch wie China: Das Emirat ist
Geldgeber der radikalislamistischen Hamas, auch die [10][Beziehungen zu
den Taliban] waren lange gut. Wie der Scharia-Staat Katar zu Frauenrechten
und Homosexualität steht, dürfte hinlänglich bekannt sein. Insbesondere den
europäischen Spitzenfußball nutzt Katar, um sein Ansehen zu verbessern, der
französische Klub Paris St.-Germain gehört dem Staatsfonds Qatar Sports
Investments.
Sosehr man den Sport also auch liebt, besser: weil man den Sport so sehr
liebt, sollte man Olympia und die WM boykottieren. Dies ist das letzte
verbliebene Mittel, um die beiden Propagandashows zu unterlaufen. Denn
stattfinden werden die Wettkämpfe nun ohnehin, eine so weise Entscheidung
wie die des Eishockey-Weltverbands, Belarus 2021 [11][die WM zu entziehen],
ist sicher nicht mehr zu erwarten; sie erfolgte übrigens auf Druck der
Sponsoren.
Natürlich hätte es auch früher schon oft genug gute Gründe für
Sportboykotte gegeben. Zum Beispiel: Peking 2008, Sotschi 2014, Russland
2018. Doch Peking und Katar 2022 haben eine andere Qualität: Für die WM von
Katar sind die Veranstalter buchstäblich über Leichen gegangen, es gibt
einen direkten Zusammenhang der vielen Toten und Geschundenen mit dem
Sportereignis, es geht im Emirat nicht „nur“ um die Repräsentation eines
missliebigen Herrschaftsapparats. Bei China ist es etwas anders. Es geht
genau darum, diesem Staat keine Bühne zu bieten, zu viele rote Linien
scheinen überschritten. Events wie Olympia wirken systemstabilisierend, vor
allem innerhalb des Landes. Sollten es also im Februar für China glänzende,
prächtige, erfolgreiche Spiele werden, so wären wir keinen Schritt weiter
als 1936.
Der diplomatische Boykott, wie die USA ihn angekündigt haben oder das
Fernbleiben der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock sind
Symbolpolitik. Immerhin. Aber es muss mehr passieren: Einzelne Athletinnen
und Athleten oder ganze Verbände sollten sich dazu durchringen, nicht
anzutreten, um ein „Weiter So“ zu verhindern. Fans sollten größere Proteste
organisieren. Medien sollten sich weigern, über die Wettbewerbe zu
berichten, und stattdessen zum Beispiel live von Amateurspielen berichten.
Bei dem Ausmaß der Perversion, die wir heute im Weltsport erreicht haben,
bräuchte es tatsächlich eine zivilgesellschaftliche, globale
Sport-Opposition. Erfreulich ist es deshalb, dass in Deutschland seit
Längerem die [12][Initiative boycott-qatar] aktiv ist.
Sportler und Sportfunktionäre argumentieren gerne, ein Boykott bringe rein
gar nichts, man müsse die Podien Olympia und WM nutzen, um vor Ort Kritik
zu äußern. Auch da muss man sich fragen: Nichts gelernt? Als 2008 in Peking
die Sommerspiele stattfanden, sollten sie Öffentlichkeit herstellen und
eine Wende zum Besseren einläuten. Nichts wurde besser.
Und wie viel ein Boykott erreichen kann, das hängt ausschließlich davon ab,
wie erfolgreich der Aufruf dazu ist. Nehmen wir etwa den äußerst
unwahrscheinlichen Fall an, der DFB zöge das Nationalteam von der WM in
Katar zurück: Kalt lassen würde das die Organisatoren von der Fifa wohl
kaum. Es wäre ein Hebel, um Druck auf die Weltverbände auszuüben.
Bleiben wir noch einen Moment bei diesem Gedankenspiel. Laut einer
WDR-Umfrage von 2021 plädiert tatsächlich eine Mehrheit der Deutschen (65
Prozent) dafür, dass das DFB-Team [13][nicht in Katar antreten] soll. Zum
einen kann man sich da die Frage stellen, warum Gebührengelder gezahlt
werden für Events, die sogar Sportfans ablehnen und über die die
Fernsehanstalten zudem nicht frei berichten können. Absurde 214 Millionen
Euro zahlen die Öffentlich-Rechtlichen für das Turnier in Katar. Zum
anderen könnte aber über einen möglichen Boykott nur der Verband
entscheiden, also der DFB. Ein demokratischer Weg wäre eine Befragung aller
DFB-Mitglieder. Die wird es wiederum im wenig demokratischen nationalen
Verband nicht geben.
Einschränkend muss man bei alldem sagen: Von den Athletinnen und Athleten
ist es sehr viel verlangt, die Wettbewerbe zu boykottieren. Sie haben
keinen Einfluss auf die Austragungsorte, sie wollen nur ihrer Berufung
nachgehen.
Für alle anderen Beteiligten – Medien, Fans, Zuschauer, Verbände, Politiker
– gilt es, sich zu überlegen, wie ein kreativer Boykott aussehen könnte.
Man könnte einfach aus der EM der Frauen in England im Juli eine
riesengroße Fußballparty machen. Oder: Ein paar Fans aus Leipzig haben dazu
aufgefordert, für eine [14][Alternative WM] zu spenden. Aber ganz egal auf
welchem Wege, 2022 wäre es an der Zeit zu sagen: Wir spielen dieses Spiel
nicht mehr mit.
8 Jan 2022
## LINKS
DIR [1] https://www.nzz.ch/international/tribunal-urteilt-china-begeht-voelkermord-an-uiguren-ld.1659197
DIR [2] /Pressefreiheit-in-Hongkong/!5824614
DIR [3] /Druck-durch-China/!5825579
DIR [4] https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/2022-ist-ein-jahr-der-schande-fuer-den-olympischen-sport-li.201087?pid=true
DIR [5] https://www.sportschau.de/olympia/olympia-peking-nachhaltigkeit-100.html
DIR [6] /Tennisspielerin-Peng-Shuai-dementiert/!5822999
DIR [7] https://www.theguardian.com/global-development/2021/feb/23/revealed-migrant-worker-deaths-qatar-fifa-world-cup-2022
DIR [8] https://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2021/08/MDE2246142021ENGLISH.pdf
DIR [9] https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-11/Amnesty-Bericht-Katar-Fifa-WM-Rechte-Arbeitnehmer_innen-Arbeitsschutz-Reality-Check-November-2021.pdf
DIR [10] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/katar-taliban-buero-doha-fussball-wm-100.html
DIR [11] /Keine-Eishockey-WM-in-Belarus/!5742681
DIR [12] https://www.boycott-qatar.de/
DIR [13] https://presse.wdr.de/plounge/wdr/programm/2021/05/20210522_wm_2022_katar_umfrage.html
DIR [14] https://www.startnext.com/globalcup
## AUTOREN
DIR Jens Uthoff
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